Juli 1973 – Ein Schuss, der die Welt verändert Nach der nahezu unberührten Natur bei Bamiyan hat uns der Staub der Großstadt wieder. Es ist der 16. Juli 1973, ein Montag. Es ist sommerlich warm in der Stadt, in der es nur selten unerträglich heiß wird. Kabul liegt einfach zu hoch. Monika, Michelle, noch eine

Juli 1973 – Ein Schuss, der die Welt verändert

Nach der nahezu unberührten Natur bei Bamiyan hat uns der Staub der Großstadt wieder. Es ist der 16. Juli 1973, ein Montag. Es ist sommerlich warm in der Stadt, in der es nur selten unerträglich heiß wird. Kabul liegt einfach zu hoch. Monika, Michelle, noch eine Frau aus Holland und ich sitzen fast den ganzen Tag im Garten und spielen Karten. Das Spiel heißt Sevens, ist in England vermutlich mindestens so beliebt wie Mau-Mau oder Skat in Deutschland. Michelle hat es mir beigebracht – während ich mich mal wieder vor allem auf ihre faszinierenden Augen konzentriert habe.

Das könnte etwas Längeres und Festeres werden mit ihr und mir. Bei mir kribbelt es, wenn ich sie sehe, fühle oder rieche. Und sie findet das Gefühl, mich in der Nähe zu haben, wohl auch ziemlich gut. Ich würde mit ihr schon gerne mehr als nur kuscheln und vögeln. Was wohl Monika dazu sagen wird? Immerhin war sie es doch, die unbedingt von Anfang an eine offene Beziehung mit mir wollte und das auch gelebt hat. Wie schön, dass wir noch so viel Zeit haben, den besten Weg zu finden.

Zum Kartenspiel gibt es abwechselnd eiskalten Erdbeershake oder Mangosaft. Es ist einfach ein wunderbarer Tag und es ist großartig, richtig faul zu sein. Am späten Nachmittag fahren wir auf einen der vielen Hügel Kabuls um von dort den Untergang der Sonne zu genießen. Ein leichter Wind weht und von hier oben sehen wir Dutzende von Kindern, die ihre Drachen steigen lassen.

Mir fehlt meine Musik ein bisschen. Die paar Kassetten, die wir für das Auto dabei haben, sind inzwischen so oft gespielt worden, dass die Tonqualität unerträglich schlecht geworden ist. The Who, Spooky Tooth, Cream, The Kinks, Led Zeppelin oder sogar Crosby, Stills, Nash and Young wären jetzt gut. Wieder einmal habe ich das Gefühl, dass dieses Land, trotz seiner bewegten Geschichte, ruhig und friedlich geworden ist. So viele Menschen in meinem Alter machen die Reise hierher auch, weil Haschisch gut und günstig ist und weil sie in Ruhe ihre Drogen genießen können. Für mich war das nie ein Thema. Rauschgifte und Schnäpse sind für mich eine fremde Welt. Während viele über „Grünen Türken“ und „Schwarzen Afghanen“ philosophieren, versuche ich herauszubekommen, ob und wie es in einer Dreierbeziehung möglich ist, Zuneigung oder Liebe gleichmäßig zu verteilen.

Meine Drogen sind die Natur, Abenteuer und natürlich gerade im Moment auch Michelle und Monika. Der Sonnenuntergang ist auch so etwas, wie eine Droge. Glühende gelbe und rote Farben im Überfluss. Ich glaube, dass der Zeitungsartikel, den ich an diesem Abend für das „Spandauer Volksblatt“ schreibe, beinahe so etwas wie Romantik vermittelt.

Einen Tag später, am Dienstag ist die Welt plötzlich eine andere. Das Afghanistan von morgen wird nicht mehr das Afghanistan von gestern sein. Ein Panzer fährt durch die Sulh-Road in Shar-E-Naw, eine der wichtigsten Straßen Kabuls. Ein einzelner nur. Ich kenne mich mit Militärfahrzeugen nicht sehr gut aus. Leute, die mit angehaltenem Atem neben mir stehen, glauben, dass es ein schon seit den Fünfziger Jahren in Amerika gebauter Panzer vom Typ M-48 ist. Eine ganze Strecke rasselt er vorwärts, dicke Rauchwolken aus dem Auspuff ausstoßend.

Ein Panzer vom Typ M48/Patton

Dann ein Stückchen zurück. Sein Turm dreht sich, mit heulendem Motor geht es wieder nach vorne. Dann steht er plötzlich. Wieder dreht sich der Geschützturm, das Kanonenrohr hebt sich ein Stück. Aus dem Rohr quillt ein kleines Rauchwölkchen und eine Sekunde später höre ich den Knall. Laut, wie die sowjetischen Kampfflugzeuge, die zeitweilig über West-Berlin die Schallmauer durchbrochen haben.

In den Gesichtern der Menschen um mich herum: die nackte Angst, Tränen oder besorgtes Stirnrunzeln. Aber es gibt auch ein paar Männer, die applaudieren. Es scheint als wüssten zumindest diejenigen, die Beifall spenden, was hier gerade passiert. Die Sonder-Nachrichten, die vom afghanischen Rundfunk ausgestrahlt werden, können wir nicht verstehen. Die Botschaft aber verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Der König ist gestürzt, sein Schwager Mohammed Daoud Khan ruft sich zum Präsidenten aus. Afghanistan war gestern Königreich und ist heute Republik. Was wir gerade erleben, ist eine Revolution oder ein Putsch oder beides. Mohammed Zahir Shah, seit 1933 König von Afghanistan, ist gerade zur Kur in Italien. Soviel bekomme ich sehr schnell mit. Dann ist im Radio noch zu hören, dass dieses Land ab sofort „Republik Afghanistan“ heißt.

Juli 1973 – Im Gefängnis der neuen Republik

So also funktionieren Revolutionen? Ein einziger Panzer? Ein einziger Schuss? Keine Toten oder Verletzten? Keine lautstarke und waffenstarrende Revolte? Die nächsten Tage verbringen wir im Hotel oder ganz in der Nähe. Man kann ja nie wissen…
Doch es scheint alles seinen ganz normalen Gang zu gehen. In der Chicken Street wird Geflügel verkauft, in der Butcher Street, gleich um die Ecke gibt es Rind- und Schafsfleisch und in der Flower Street, zwischen der Fleisch- und der Geflügelstraße, Blumen und Gemüse.

Restaurants sind geöffnet, der Muezzin ruft zum Gebet und die Dealer sprechen weiterhin alle Ausländer an, die aussehen, als wären sie wegen der Drogen in Afghanistan. Das Green Hotel, in dem wir wohnen, scheint komplett ausgebucht zu sein. Selbst im Innenhof ist es nicht mehr entspannend und gemütlich – es sind inzwischen zu viele Leute hier. Viele der Reisenden trauen sich im Moment nicht auf die Straße, trauen der Ruhe und dem Frieden nicht. Es geht ein Gerücht um, nach dem Ausländer bei der Weiterreise in Richtung Osten, nach Pakistan an der Grenze Probleme haben sollen. Genaue Informationen sind nicht zu bekommen.

Am Flughafen soll es eine meist gut informierte Touristen-Information geben. Dahin wollen Monika, Michelle und ich heute fahren. Ralf aus Berlin, auch Gast im Green Hotel, schließt sich uns an. Rechts vor den Flughafen-Terminal sind große Parkplätze, doch sie sind völlig überfüllt. Es scheint, als würde trotz Putsch oder Revolution der Flugverkehr ganz normal funktionieren. Irgendwo ganz am Rand, zwischen einem Baum und einem Wassergraben finde ich noch einen Platz für den VW-Bus. Da ich schon immer einen besonderes Faible für Flughäfen hatte, nehme ich den Fotoapparat mit. Kein wertvolles Modell. Eine „gute, alte“ Voigtländer mit Balgen, bei der der Verschluss noch separat vom Filmtransport gespannt werden muss.

Auf dem Weg zur Schule im Jahr 1973

Mitten auf dem großen, ebenen Platz, direkt vor dem Eingang zum Terminal steht ein Wegweiser mit 20 oder 30 Richtungsschildern. Angezeigt wird die Entfernung in Luftlinie zu den wichtigsten Städten der Erde. Nach Berlin sind es 4.792 Flugkilometer, nach London 5.714, Peking ist 4.177 Kilometer entfernt, Rio de Janeiro 13.429 und nach Sydney ist die Flugstrecke 11.439 Kilometer lang. Ein wunderbares Symbol dafür, wie weltoffen Afghanistan sein möchte. Ein Foto von den Schildern macht sich später sicher sehr gut, wenn ich mir mit Freunden die Dias dieser Reise ansehe.

Natürlich brauche ich dafür den richtigen Standort, schließlich muss „Berlin“ auf dem Foto sichtbar sein. Der ist schnell gefunden und sogar die Sonne steht günstig. Plötzlich ein stechender Schmerz in meinem Rücken, jemand brüllt hinter mir in einer mir unbekannten Sprache und ich habe Mühe, den Fotoapparat festzuhalten. Vorsichtig drehe ich mich um. Ein Soldat hat mir den Lauf seines Gewehres in den Rücken gerammt. Die beiden Frauen stehen verängstigt hinter ihm.

Und im Jahr 2018

Der Uniformierte redet abwechselnd auf mich ein und bläst mit geblähten Backen in seine Trillerpfeife. Ich habe keine Ahnung, was der will. Der Mann scheint Soldat zu sein, kein Polizist, aber die beiden, die da aus dem Terminal angelaufen kommen, sind von der Polizei. Sie wechseln ein paar kurze Sätze in einer Sprache, die vermutlich Dari ist, dann erklärt der jüngere der beiden Polizisten mir in gebrochenem Englisch, dass der Flughafen ein militärisches Objekt sei und dass man ihn nicht fotografieren dürfe. Erleichterung auf meiner Seite. Ich habe nicht das Flughafengebäude fotografiert, sondern nichts als den Wegweiser in alle Himmelsrichtungen.

Dummerweise scheinen die drei Männer sich für meine Einwände überhaupt nicht zu interessieren. Außerdem versuchen zwei von ihnen wohl gerade, mir blaue Flecken an den Armen zu verpassen, so fest fassen sie zu, um mich zu einem Auto zu zerren. Mit Michelle und Monika kann ich noch schnell einen Blick wechseln und ihnen die Worte „Deutsche Botschaft“ zurufen. Dann werde ich in einen olivgrünen Kleinbus geschoben. Die beiden Polizisten sitzen jetzt rechts und links von mir und wir sind auf dem Weg aus dem Flughafenbereich hinaus in Richtung Süden.

Nach 15 Minuten habe ich völlig die Orientierung verloren. Ich vermute, dass wir in Richtung Kabul University unterwegs sind, kann aber nicht einmal den Sonnenstand sehen, um daran unsere Fahrtrichtung zu erkennen. Es geht überwiegend über kleine Straßen, zweimal kreuzen wir einen der großen Boulevards.

Dann ist plötzlich der Zoo links von uns und nach ein paar Minuten biegen wir nach rechts in die Toreinfahrt eines großen Gebäudes ein. Ich habe hier immer die Verkehrspolizei vermutet, sehe aber nun, dass dieser Komplex viel zu groß ist, um „nur“ der Verkehrspolizei als Zentrale zu dienen. Die beiden Männer, nun ist ihr Griff nicht mehr ganz so fest, führen mich durch einen Hintereingang in das Gebäude und schieben mich eine Treppe hinauf und in ein kahles Bürozimmer hinein.

Eine riesige Schreibmaschine auf einem eisernen Schreibtisch. Dahinter ein verschlafen aussehender Polizist mit einer Zigarette im Mundwinkel. Der ganze Raum ist völlig verqualmt. Das kann der niemals alleine geschafft haben. Die beiden, die mich hier hergebracht haben, unterstützen ihn jetzt auf jeden Fall beim Vernebeln des Zimmers. Sie palavern und um mich kümmert sich plötzlich niemand mehr. Ein Mann mit drei Teegläsern kommt, stellt die Gläser auf dem Tisch ab und geht wieder.

„Passport“, ist das erste Wort, das an mich gerichtet wird. Der Mensch hinter der Schreibmaschine muss des Englischen mächtig sein oder zumindest lateinische Buchstaben lesen können. Sonst könnte er mit meinem Reisepass nichts anfangen. Er blättert in meinem Reisedokument, sieht sich einzelne Seiten besonders genau an, nimmt dann fünf Blätter Papier und vier Bögen Kohlepapier aus einer Schublade. Sorgfältig werden die Blätter abwechselnd mit dem Kohlepapier übereinander gelegt und dann in die Schreibmaschine eingespannt.

Wenn ich das richtig erkennen kann, schreibt er da auf einer Olympia-Maschine. Ob der Schreiber weiß, das sein Gerät aus Deutschland kommt? So wie ich? Langsam und im Ein-Finger-Such-System tippt er die Daten aus meinem Pass ab. Zwischendurch spricht er immer wieder mit seinen beiden Kollegen. Nachdem schätzungsweise eine knappe Stunde vergangen ist, zieht er mit einer eleganten Handbewegung die Papiere aus der Schreibmaschine.

Ganz unten soll ich nicht nur unterschreiben, sondern auch noch einen Fingerabdruck platzieren. Das Stempelkissen steht schon bereit. Lesen kann ich überhaupt nichts – alles ist vermutlich in Dari geschrieben. Genau das sage ich dem Menschen hinter dem Schreibtisch. „No problem“, ist seine Antwort und dann übersetzt er anscheinend grob, was er gerade geschrieben hat. Danach bin ich beschuldigt, ein militärisches Objekt fotografiert zu haben. Es bestünde somit der Verdacht, dass ich gegen Afghanistan spionieren würde. Bis zum Gerichtsverfahren würde ich in Haft bleiben. Oh Scheiße! Und dann sagt er mir noch, dass das afghanische Visum in meinem Reisepass nicht mehr gültig sei. Es sei von der Königlich Afghanischen Botschaft in Bonn ausgestellt. Und ein Königreich Afghanistan gäbe es ja gar nicht mehr. Und jetzt bringen die zwei Typen mich wirklich zwanzig Meter den Gang runter in eine vergitterte Zelle. Gut zwanzig Männer sind da schon drin. Warten die auf mich? Betten sehe ich keine und es stinkt bestialisch nach Pisse.


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 1. Januar 2019 unter dem Titel „Juli/August 1973 – Selbstversorger im Knast„.
Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien.
Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten.
Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt.
In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist.
Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister.

Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land.

Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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