Juli/August 1973 – Selbstversorger im Knast Die Zelle ist voll. Männer hocken auf dem Boden, auf Sitzbänken, die an der Wand befestigt sind, drei von ihnen sitzen auf umgedrehten Holzkisten. Zwei Europäer oder Amerikaner, der Rest, der Kleidung nach zu urteilen, sind Afghanen. Als die zwei Uniformierten mich in dieses Verlies stoßen, blickt kaum jemand

Juli/August 1973 – Selbstversorger im Knast

Die Zelle ist voll. Männer hocken auf dem Boden, auf Sitzbänken, die an der Wand befestigt sind, drei von ihnen sitzen auf umgedrehten Holzkisten. Zwei Europäer oder Amerikaner, der Rest, der Kleidung nach zu urteilen, sind Afghanen. Als die zwei Uniformierten mich in dieses Verlies stoßen, blickt kaum jemand auf. Ein paar der Gefangenen lesen, andere reden miteinander, etliche stieren einfach wie apathisch vor sich hin. Völlig hilflos und den Tränen nahe stehe ich in der Tür, die rasselnd hinter mir wieder ins Schloss fällt. Gefühlt vergehen ein paar Minuten, tatsächlich sind es wohl eher Sekunden, bis mir aus drei oder vier verschiedenen Mündern ein „Selam“ entgegengebrummt wird. Hinten rechts aus der Ecke, von einem der europäisch aussehenden Männer kommt ein etwas lauteres „Hi“. Er winkt mich in seine Richtung. Vorsichtig, um möglichst niemanden zu treten, balanciere ich in „die europäische Ecke“.

Kabul im Jahr 2010 Foto: © Marion Althaus

„My name is Willem, I’m from the Netherlands. This is Pierre from Canada.“ Der Kanadier hat einen ziemlich starken französischen Akzent. Er dürfte aus Quebec kommen. Willem spricht ganz gut Deutsch, wir drei werden aber beim Englischen bleiben. Ganz kurz erzähle ich ihnen, warum ich hier bin, dass ich beim Fotografieren eines Schildes am Flughafen „auf frischer Tat ertappt“ worden bin. Pierre sei angeblich mit falschen Pass gereist und ist seit gut einer Woche hier. Der Niederländer ist schon seit über einem Jahr in Kabul, spricht ein paar Worte Dari und wurde beim Klauen erwischt. Von den beiden bekomme ich eine kurze Einführung ins afghanische Knastleben.

Etwas zu Essen gibt es zwei Mal am Tag. Bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang. Zu jeder „Mahlzeit“ gibt es Nan, das aus Sauerteig gebackene Fladenbrot und dazu Wasser. Sonst nichts. Geschlafen wird auf dem Betonboden, auf Wolldecken, die immer erst am Abend in die Zelle geworfen werden. Die Toilette ist das Loch im Beton, ganz hinten links in der Ecke, hinter dem Vorhang – zweifellos die Quelle des ätzenden Geruchs in der Zelle. Daneben steht ein Wasserkübel, der hin und wieder aufgefüllt wird. Duschen oder Gefängniskleidung gibt es nicht. Fast jeder hier drin, so erzählen Willem und Pierre, wird zusätzlich von Außen versorgt. Bekannte oder Verwandte dürfen Lebensmittel bringen, Bücher und Getränke. Schreibzeug ist verboten, Gespräche ebenso. Meist muss das, was die Angehörigen bringen, vorne an der Wache abgegeben werden. Nach entsprechendem „Provisionsabzug“ gibt es einer der Wächter dann an den Gefangenen weiter.

Wie aber sollen Monika und Michelle herauskriegen, wo ich untergebracht bin? „Wissen die, dass du verhaftet wurdest?“ will Pierre wissen. Klar, die beiden waren ja dabei. „Wie gut, dass sie nicht versucht haben einzugreifen, dann wären sie jetzt selbst im Gefängnis.“ Willem ist zuversichtlich. Wenn sie wissen, dass du festgenommen wurdest, dann bekommen die auch raus, wo du bist. Sein Tenor: warte ab, sei geduldig, meine Freunde waren schon nach zwei Tagen das erste Mal hier. Der Optimist, denke ich mir und hoffe, dass die Mädchen es schaffen, sich wenigstens bei mir zu melden. Ich hoffe auch, dass die beiden zur Deutschen Botschaft gehen und dort von meiner Festnahme berichten.

Die erste Nacht ist fürchterlich. Das Fladenbrot bläht – und nicht nur bei mir. Ein Dutzend Schnarcher im Raum und ständig geht jemand auf das Loch im Beton. Dass es trotz Wolldecke betonhart ist auf dem Fußboden, das macht mir nicht viel aus. Die permanente Unruhe und die bedrückende Enge schon eher. Wir liegen wirklich dicht an dicht, ein bisschen so, wie die Ölsardinen in der Dose. Schräg neben mir liegt ein steinalter Mann mit buschigen Augenbrauen und verkrüppelten Händen. Jedes Mal, wenn er sich bewegt, bekomme ich einen Tritt von ihm ab. Als am Morgen von einem anderen Gefangenen die Decken eingesammelt und die Brotfladen ausgegeben werden, bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt geschlafen habe. Ein viel größeres Problem sind im Moment meine Kontaktlinsen. Ich habe die harten Linsen erst seit gut 24 Stunden in den Augen, doch die brennen schon und Pierre bestätigt mir, dass meine Augen rot sind. Demnächst müssen die Linsen raus sonst könnte es eine heftige Entzündung geben. Doch wohin mit den Dingern? Und: wie komme ich ohne Ersatzbrille klar? Mit meiner Kurzsichtigkeit komme ich ohne Sehhilfe nicht sehr weit. Wahrscheinlich würde ich in der stinkenden Ecke nicht einmal das Loch treffen.

Marktstraße Kabul 2010 Foto: ©Marion Althaus

Irgendwann im Laufe des Vormittages geht die Zellentür auf. Ein baumlanger Kerl in Uniform hat ein Blatt Papier in der Hand und brüllt drei Namen. Einer davon hört sich an wie meiner und da nur zwei andere der Insassen sich rühren, muss ich wohl gemeint sein. „Verhör“, flüstert Willem. Noch in der Zelle werden wir drei Aufgerufenen aneinander gekettet. Ein bisschen wie im Mittelalter oder in Gefängnisfilmen aus den USA. Durch schier endlose Gänge und über Treppen werden wir in einen anderen Raum geführt. Ich schätze, wir sind jetzt in der vierten Etage. Mit einer Handbewegung fordert der Lange uns auf, auf der Holzbank zu sitzen. Einem von uns drei Gefangenen wird die Kette abgenommen, die statt dessen an die Bank angeschlossen wird. Zum Türmen müssten wir also die Sitzbank mitnehmen. Der jetzt „freie“ Mann wird in einen Nebenraum gestoßen, die Tür fällt zu. Stühlescharren nebenan, murmelnde Stimmen, laute Rufe in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Brüllende Laute von einer hohen, fast keifenden Stimme, Jammern als Antwort. Ich versuche, mich mit meinem Nachbar zu verständigen – keine Chance, er sprich wohl ausschließlich Paschtu und um uns mit Händen und Füßen zu verständigen scheint uns beiden gerade die Lust zu fehlen. Herzklopfen.

Ich bin dran. Der soeben Verhörte nimmt meinen Platz an der Kette ein. Im Nebenzimmer ein Tisch, zwei Stühle. Sonst nichts. Der Mann mir gegenüber ist jung. Zwanzig vielleicht, höchsten ein paar Jahre älter. Mein Alter also. Er trägt Zivilkleidung, aber so etwas wie ein Polizeiabzeichen am Hemd. Und, ich kann es kaum fassen, er spricht Englisch. „Für wen spionierst du in Afghanistan?“ ist seine erste Frage. Ich versuche zu erklären, werde jedoch nach den ersten Worten unterbrochen. Ich hätte doch den Flughafen fotografiert, wer mich dafür bezahlen würde. Ich solle gar nicht versuchen, mich herauszureden, die Polizei wüsste längst, dass ich als Spion eingereist sei. Wieder erkläre ich, dass ich lediglich einen Wegweiser und sonst nichts fotografiert habe. Er glaubt mir nicht. „Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand ein altes, verrostetes Schild fotografieren würde.“ Kann noch nicht weit rumgekommen sein, der junge Mann, denke ich mir. Wir drehen uns im Kreis, er behauptet, ich sei ausländischer Agent, ich erkläre, dass ich ausländischer Tourist sei. Seine letzten Worte: „Du wirst hier im Gefängnis bleiben, bis du gestehst.“ Was für ein Unsinn. Das hört sich an, als würde ich in Freiheit entlassen werden, wenn ich nur gestünde. Als er mich hinaus schickt, versuche ich noch ihm mein Problem mit den Kontaktlinsen zu erklären. Kennt er nicht, interessiert ihn nicht.

Irgendwann am Nachmittag bin ich zurück in „meiner“ Zelle. Auf dem kettenklirrenden Weg dorthin habe ich gesehen, dass es noch etliche andere Türen gibt, die genau so aussehen, wie die Tür der Zelle, in die ich gerade gebracht werde. Es scheint so etwas wie ein Untersuchungsgefängnis zu sein. Immer wieder werden Männer abgeholt und nach ein paar Minuten oder nach Stunden zurückgebracht. Am späten Nachmittag kommen zwei neue, beides Afghanen. Es wird also noch enger in dem Raum, in dem schon jetzt in der Nacht nicht alle Platz zum Liegen haben. Willem hat Besuch gehabt. Ein neues Buch und eine Schüssel mit Reis und Hühnchen wurden ihm gebracht. Es erstaunt mich, dass er völlig in Ruhe essen kann. Andere hier im Raum müssen mächtig Hunger haben, doch niemand versucht, ihm sein Essen streitig zu machen. Nachdem Brot und Decken in die Zelle gebracht wurden, wird eine Gruppe von fünf Männern abgeholt. Niemand weiß warum, alle sind froh über etwas mehr Platz auf dem Fußboden. Meine Augen brennen höllisch, ich bitte Willem um ein Blatt Papier aus seinem Buch, zerreiße es in zwei Teile und wickele vorsichtig meine Kontaktlinsen darin ein. Ein Stückchen Papier für die linke Linse, eines für die rechte. Damit bin ich heute Nacht fast blind, kann die Linsen aber hoffentlich morgen wieder tragen.

In der Nacht muss ich geschlafen haben, ich wache relativ erholt auf, als Decken eingesammelt und Brotfladen ausgegeben werden. Das Brot ist frisch und es ist noch ganz warm – das Wasser allerdings auch. Kurz nach dem Essen und nachdem ich meinen Mund mit dem Wasser gründlich gespült habe, benetze ich meine Kontaktlinsen mit Spucke, indem ich sie vorsichtig im Mund hin und her bewege. Danach setze ich sie in die Augen. Wie gut, dass ich das schon viele Jahre mache und keinen Spiegel mehr dafür benötige. Es geht! Ich kann normal sehen – nur eine Dauerlösung ist das natürlich nicht, da die kleinen Dinger eigentlich jeden Tag desinfiziert werden müssen. Es ist warm geworden, was den Gestank im Raum nicht wirklich vermindert. Gegen Mittag, so schätze ich, kommt wieder der Riese und ruft meinen Namen. Diesmal geht es anscheinend nicht zum Verhör sondern zur Wache, dorthin, wo ich meine Fingerabdrücke abgegeben musste. Diesmal ist es ein eher erfreulicher Anlass. Ich habe so etwas wie ein Päckchen bekommen. Es ist ein kleiner Pappkarton mit einem Buch und in Alufolie eingepackter Reis mit Zwiebeln und Lammfleisch. Kein Brief. Vom dem Mann in der Wache will ich wissen, wer den Karton für mich gebracht hat. Er grinst nur und macht ein paar anzügliche Bewegungen. Danke! Dass es eine Frau war, dachte ich mir schon. Nur, welche von beiden?

Zurück in diesem stinkenden Gefangenenaufbewahrungsraum verdrück ich mich in die „internationale Ecke“ zu Pierre und Willem und mache mich sofort über den Reis her. Hunger habe ich keinen aber Lust auf „richtiges Essen“. Mit Hilfe der Alufolie und meiner Finger schaufele ich den noch warmen Reis mit Fleisch und Tomaten in mich rein. Sehr lecker. Noch besser würde es zusammen mit den Mädchen schmecken. Das Buch ist von Günter Grass. Die englische Version von Katz und Maus. Wo sie das wohl aufgetrieben haben? Und, alles andere wäre auch verwunderlich gewesen, da fällt ein eng beschriebener Zettel aus dem Buch. Ganz eindeutig die Schrift von Monika – die von Michelle würde ich wohl noch nicht erkennen. Die zwei sind unmittelbar nach meiner Festnahme vom Flughafen zur Botschaft gefahren. Dort wurde alles aufgenommen, ihnen aber nicht viel Hoffnung gemacht. Das einzig Positive: „Ausländer lässt man wegen solcher Lappalien meist nach ein paar Wochen wieder frei.“ Auch, dass es sinnvoll wäre mir Essen und Dinge des täglichen Bedarfs zu bringen, hat der Konsularbeamte empfohlen. Einen Rechtsanwalt könne man erst dann einschalten, wenn ich offiziell angeklagt wäre. Monika schreibt, dass sie versuchen werden, noch mehr über die Verfahrensweisen in solchen Fällen herauszubekommen, dass sie mich mit Essen, Lesestoff und Unterwäsche versorgen, mir die Daumen drücken und mich ansonsten sehr vermissen würden. Beide Unterschriften ganz unten auf dem Blatt. Für ein paar Minuten wandern meine Gedanken aus der Zelle hinaus zu Michelle und Monika. Mit Monika bin ich nun schon ein paar Jahre zusammen und wir haben es meistens genossen. Bei dem Gedanken an Michelle bekomme ich wieder Herzklopfen. Einer geistig und körperlich so beweglichen, flinken und dabei so attraktiven Frau bin ich vorher noch nie begegnet.


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 1. Januar 2019 unter dem Titel „August 1973 – Hier geht jetzt alles nach Recht und Gesetz„.
Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien.
Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten.
Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt.
In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist.
Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister.

Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land.

Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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