August 1973 – Hier geht jetzt alles nach Recht und Gesetz In der Ecke, wo das Loch im Fußboden ist, hat jemand Durchfall. Willem muss würgen, kann sich aber beherrschen. Ich habe meinen Reis noch nicht aufgegessen. Ich will hier raus! Abhauen! Flüchten! – Doch ich bin sicher, ich bin nicht der einzige in „unserer“

August 1973 – Hier geht jetzt alles nach Recht und Gesetz

In der Ecke, wo das Loch im Fußboden ist, hat jemand Durchfall. Willem muss würgen, kann sich aber beherrschen. Ich habe meinen Reis noch nicht aufgegessen. Ich will hier raus! Abhauen! Flüchten! – Doch ich bin sicher, ich bin nicht der einzige in „unserer“ Zelle mit solchen Gedanken. Die Männer stinken, machen komische Geräusche, sprechen fremde Sprachen und ich bin sicher, nichts Verbotenes getan zu haben. Ob auch ich schon widerliche Düfte abgebe? Ich will duschen! Restliches Tageslicht fällt durch die trüben, schmutzigen Fenster dieser riesigen Gefängniszelle. Ein paar Leute haben wohl Zigaretten bekommen und an mehreren Stellen quillt Rauch in die Höhe. Eigentlich mag ich Zigarettenrauch gar nicht, doch hier ist er ganz willkommen. Lieber den Geruch von verbranntem Tabak als den Kloakengestank, der aus der Toilettenecke und unter der Kleidung einiger Mitinsassen hervorquillt. Und mit ihrem Fladenbrot können die mich heute mal. Ich bin gut gesättigt und da ich jetzt auf die Schnelle sicher keinen Weg nach draußen finde, will ich nun schlafen.

Irgendwelche Viecher müssen in der Nacht über mich hinweg gekrabbelt sein. Kakerlaken vermutlich, die hatte ich hier schon öfter gesehen, obwohl die Männer hier in der Zelle alle Jagd auf die braunen Krabbeltiere machen. Selbst in der Nacht kann man es manchmal hören, wenn so ein Tier knacksend zerdrückt wird. So richtig klappt das nicht mit dem Schlafen. Wegen der Viecher, aber auch, weil die Angst langsam in meinen Kopf kriecht. Was ist, wenn die mich hier wochen- oder monatelang festhalten? Dürfen und können die das überhaupt? Ob die Botschaft einen Rechtsanwalt beauftragt? Ob meine Verhaftung vielleicht nur ein Irrtum ist, der sich morgen oder spätestens übermorgen aufklären wird? Irgendwie fressen sich die Gedanken in mir fest und halten mich vom Einschlafen ab. Und natürlich vermisse ich Monika und Michelle.

Foto: Dieter Herrmann

Am Morgen, gerade wird es langsam hell draußen, wird es plötzlich laut. Keine Ahnung, ob ich geschlafen habe, ich fühle mich schlecht und traurig. Zwei Männer in dunkler Uniform stehen in der geöffneten Tür und brüllen wieder Namen. Meiner ist nicht dabei – auch nicht die von Pierre und Willem. Es sind viele heute morgen. Sicherlich die Hälfte der Männer wird abgeholt. Keine halbe Stunde vergeht, bis die Tür erneut aufgerissen wird. Kommandos, die ich nicht verstehe, werden gebrüllt. Willem kennt das anscheinend schon. „Putztag“, sagt er nur. „Nimm alles in die Hände, was dir gehört“. Das ist nicht viel und passt leicht unter einen Arm. Die verbliebenen Gefangenen drängen sich an die eine Wand des Raumes, als der Mann mit dem Schlauch kommt. Es ist sicherlich auch ein Häftling, der jetzt mit hohem Druck den Fußboden abspritzt. Essensreste, zerquetschte Kakerlaken, Papierfetzen, Asche, undefinierbarer braungrauer Schleim, alles wird in Richtung Latrine gespritzt. Der „Putzmann“ gibt sich Mühe, uns nicht nass zu machen und es gelingt ihm weitgehend. Nach ein paar Minuten ist das ganze Großreinemachen vorbei, der Fußboden natürlich klatschnass. „Mach dir keine Sorgen“, tröstet mich Willem, „das ist in einer Stunde alles wieder trocken. Solange müssen wir eben stehen.“

Todmüde von der vermutlich weitgehend durchwachten Nacht, kann ich am Nachmittag zwei Stunden schlafen. Es ist ein heißer Tag und das Wasser auf dem Fußboden war tatsächlich schnell verdunstet. Auch der Gestank aus der Ecke mit dem Loch ist erträglicher geworden. Abends lese ich, so lange es Licht gibt, noch etwas den Grass und kann anschließend ziemlich gut schlafen, zumal ich heute eine relativ saubere und geruchsarme Wolldecke erwischt habe. Ob man sich an diese Art des Knastalltags gewöhnen kann? Ob ich mich überhaupt daran gewöhnen könnte, eingesperrt zu sein?

Zwei weitere Tage sind vergangen. Zwei Mal habe ich von den Mädchen etwas zum Essen bekommen. Gesehen habe ich die beiden nicht. Beide Male war auch ein Briefchen dabei. Im ersten schrieb Monika, dass „draußen“ alles gut geht, dass etliche Leute sich Sorgen um mich machen und dass es sicher nur noch ein paar Tage dauern kann. Der zweite Brief war von Michelle und er war so, dass mir die Tränen gekommen sind und ich gleichzeitig eine Erektion bekommen habe. Hoffentlich ist beides von niemandem hier bemerkt worden. Neben all den liebevollen Sätzen schrieb Michelle am Schluss, dass sie vielleicht einen Weg gefunden habe, mich schnell hier heraus zu bekommen. Keine nähere Erklärung. Herzklopfen am Abend beim Einschlafen.

Foto: Dieter Herrmann

Am Morgen habe ich ziemlichen Hunger. Ich freue mich auf das warme Fladenbrot, und als ob ein Feiertag wäre, gibt es heute für jeden eine Handvoll Oliven dazu. Kein Fest für mich, ich gebe je die Hälfte davon an Pierre und Willem weiter. Ich mag keine Oliven. Eine Stunde nach diesem üppigen Frühstück klappern wieder Schlüssel und die Zellentür wird geöffnet. Drei Namen sind es heute, die aufgerufen werden. Ein Afghane, Pierre und ich. Der Einheimische und der Kanadier werden von zwei Polizisten in Richtung Verhörzimmer geführt. Mich bringt man zur Wache, wo nach meiner Festnahme meine Daten aufgenommen worden sind. Hinter der Schreibmaschine sitzt ein anderer Mann. Nach ein paar Versuchen wird klar, dass es mit der Kommunikation nichts werden wird, er spricht offensichtlich kein Englisch. Auf seinem Tisch liegt das Formular, dass bei meiner Ankunft hier geschrieben wurde. Er will, dass ich jetzt unterschreibe, seine Gesten sind eindeutig. Nein, mein Freund, mache ich nicht. Da steht ja jetzt viel mehr drauf, als noch vor ein paar Tagen. Wer weiß, was ich mit meiner Unterschrift gestehen würde?

Er tobt und flucht, ich verstehe nicht und unterschreibe nichts. Immer wieder schlägt er mit der flachen Hand auf das Dokument. Es hört sich weder freundlich noch besonders vielversprechend an, was er sagt – vielleicht irre ich mich aber auch völlig. Auf jeden Fall ist er sauer, zündet sich eine Zigarette an und schweigt plötzlich. Sicher vergehen drei oder vier Minuten, ohne, dass einer von uns beiden etwas sagt. Dann zieht er ruckartig seine Schreibtischschublade auf, nimmt meinen dunkelgrünen Reisepass heraus, wirft ihn mir in den Schoß und brüllt: „Go, go, go, go!“ Meint der, dass ich gehen soll? Ja, genau das meint er und zeigt mir mit seinen Handbewegungen deutlich, dass ich endlich verschwinden soll. Vorsichtig, fast tastend, mache ich mich auf den Weg zur Tür. Was passiert da hinter mir? Wäre ich hier in einem amerikanischen Film, würde ich jetzt womöglich auf der Flucht erschossen. Nichts. Kein Laut in meinem Rücken. Gemessenen Schrittes raus aus der Tür und mit normaler Geschwindigkeit und Schweiß auf Rücken und Stirn in Richtung Ausgang. Grass mit Katz und Maus bleiben in der Zelle. Leider auch die Briefe von den Mädchen.

Die Treppe runter, ein paar Meter über den Innenhof in Richtung Straße. Doch da kommt ja noch das Pförtnerhäuschen mit den zwei bewaffneten Soldaten. Alles nur ein gemeiner Trick? Nein, völlig unbehelligt gehe ich an der kleinen Bude vorbei. Die zwei darin trinken Tee. Rechts vor der Tür steht mein alter, blauer VW-Bus, hinter der Windschutzscheibe Monika und Michelle. Tränen in den Augen steige ich ein, lasse mich in die Arme nehmen.

I would have bribed him with more than 100 Dollars“, kommt von Michelle mit breitem Lachen. So, so, ich bin ihr doch mehr als einen Hunderter wert. .


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint unter dem Titel „August 1973 – Illegal in Afghanistan„.
Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien.
Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten.
Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt.
In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist.
Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister.

Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land.

Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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