August 1973 – Illegal in Afghanistan Wieder draußen, wieder in Freiheit und wieder mit den Mädchen zusammen. Das ist ein echtes Glücksgefühl. Im Restaurant „Herat“, zwischen Sulh Road und Butcher Street gehen wir festlich essen. Eigentlich liegt das etwas oberhalb unserer Preisklasse, doch ich finde, dass meine Hundert-Dollar-Freiheit angemessen gefeiert werden muss. Drinnen dürfen wir

August 1973 – Illegal in Afghanistan

Wieder draußen, wieder in Freiheit und wieder mit den Mädchen zusammen. Das ist ein echtes Glücksgefühl. Im Restaurant „Herat“, zwischen Sulh Road und Butcher Street gehen wir festlich essen. Eigentlich liegt das etwas oberhalb unserer Preisklasse, doch ich finde, dass meine Hundert-Dollar-Freiheit angemessen gefeiert werden muss. Drinnen dürfen wir hier nicht sitzen. Innerhalb des Lokals gibt es einen großen Raum nur für Männer und einen kleineren, der offiziell für Familien ist, in dem aber meist die Frauen, manchmal mit Kindern, sitzen. Draußen im Garten aber sind auch „gemischte Gruppen“ erlaubt. Holzhütten mit geöffneten Seitenwänden stehen dort. Manche bieten Platz für bis zu zehn Personen, andere sind kleiner. In diesen Hütten sitzt man auf dem Boden, um einen Teppich herum. Auf diesem Teppich wird das Essen serviert. Zwischen den Hütten stehen einfache Holztische mit Stühlen. Nach der Knastzeit mit Sitzen, Essen, Schlafen auf dem Boden möchte ich an einem der Tische sitzen. Das Restaurant ist gut besucht und trotzdem scheint es, als würde es mehr Kellner als Gäste geben. Aufmerksam wuseln sie um die Kunden herum und versuchen, ihnen die

Restaurantküche in Kabul – Foto: Dieter Herrmann

Wünsche von den Augen abzulesen. Der Mann, der für uns zuständig ist, steht am Tisch, kaum, dass wir uns gesetzt haben.

Natürlich hat er für mich wieder mal keinen Blick übrig. Ich kenne das inzwischen, wenn ich mit Monika und Michelle in der Öffentlichkeit unterwegs bin, werde ich, trotz meiner Körpergröße von 1,94 Metern, meistens übersehen.

Es gibt so etwas wie eine Speisekarte, doch die meisten Gäste hier schildern dem Kellner, was sie essen möchten und das wird dann zubereitet. Das Angebot beschränkt sich allerdings auf die typischen afghanischen Gerichte vom Holzkohlengrill und verschiedene Salate. Beim Essen sind wir drei uns meistens ebenso einig wie bei den anderen Dingen die Spaß machen. So bestellen wir klassisches, afghanisches Kebab mit Fladenbrot (Naan), dazu den „Salat des Hauses“ und für jeden ein großes Glas Shomleh. Das Getränk kommt schon nach ein paar Minuten. Es ist eine Mischung aus Wasser und Joghurt, mit etwas Salz und frischen Minzeblättern. Eiskalt und herrlich durstlöschend an heißen Tagen. Der Salat wird aufgetragen. Eine große Schüssel mit gehackten Gurken, vielen Zwiebelringen, gewürfelten Tomaten, geraspelten Karotten, Koriander und Minze. Kein Öl aber jede Menge Zitronensaft. Gegessen wird direkt aus der gemeinsamen Schüssel. Zum Schluss das Fleisch. Fünf Lammspieße für jeden von uns, dazu frisches Brot. Die vor Fett und Fleischsaft triefenden Spieße kommen auf einem großen Brotfladen, der sich vollgesaugt hat mit herrlichem Fleischgeschmack. Michelle erzählt, dass sie zwei Jahre nur vegetarisch gelebt hat, sich das aber jetzt überhaupt nicht mehr vorstellen könne.

Später im Garten unseres Hotels müssen wir meine Freiheit noch ein bisschen feiern und danach in unserem Zimmer auch.

Am Morgen, beim späten Frühstück mit frischem Brot, Schafskäse, Erdbeermilch und Grünem Tee kommen plötzlich zwei Polizisten in den Hof, in dem gefrühstückt wird. Völlig erschreckt will ich aufspringen und mich irgendwo verstecken. Es muss herausgekommen sein, dass ich nach Bestechung eines Beamten das Gefängnis verlassen habe. Michelle hält mich am Arm fest, sieht mich kalt und fest an und bedeutet mir, ganz ruhig zu bleiben. Wahrscheinlich hat sie recht, entkommen kann ich hier ohnehin nicht. Die Männer in ihrer blauen Uniform gehen ins Haus, mir klopft mein Herz bis zum Hals. Nach ein paar Minuten kommen die beiden, jeweils mit einem Glas Tee in der Hand, wieder auf den Innenhof. Mit ihnen zusammen der Besitzer des Green Hotels. Nun wird er gleich auf mich zeigen. ‚Das ist der Mann, der gestern aus dem Gefängnis kam,‘ wird er sagen.

Doch nichts dergleichen passiert. In seinem gut verständlichen Englisch bittet er alle Gäste um Aufmerksamkeit. „Seit ein paar Tagen ist unser Land kein Königreich mehr, sondern eine Republik,“ sagt er, „damit sind alle Visa, die von einer Königlich Afghanischen Botschaft ausgestellt worden sind, ab sofort ungültig.“ Mit Hilfe des Hoteleigentümers erklären die Polizisten, dass alte Visa auch bei der Ausreise nicht mehr anerkannt werden. „Jeder, der hier bleiben will und jeder, der wieder ausreisen will [sic], muss beim Passport Office ein neues Visum beantragen. Alle, die noch das alte Visum im Reisepass haben, sind ab sofort illegal im Land.“ Sofort werden die Beamten mit Fragen bestürmt. Wann das ginge, wo das Amt sei, was es kosten würde, wie lange es dauert und so weiter. Ein paar Fragen werden beantwortet, gut informiert sind die beiden Polizisten offenbar nicht. Da wir noch mindesten ein bis zwei Wochen in Afghanistan bleiben möchten, gehen wir es langsam an. Gerade jetzt, in den nächsten Tagen, dürfte es beim Passamt ziemlich chaotisch zugehen. Hunderte von Reisenden aus aller Welt werden um neue Visa anstehen – bei einer Behörde, die in „normalen Zeiten“ schon völlig überfordert sein soll. Und mit Reisepässen, die die Beamten dort vermutlich noch nie zuvor gesehen haben.

Zusammen mit Monika und Michelle überlege ich, ob wir für ein oder zwei Wochen in den Nordosten des Landes fahren sollten. In die Provinz Badakhshan, ganz oben, an der Grenze zu China und zur Tadschikischen Sowjetrepublik. Wenn wir danach wieder zurück sind, können wir uns immer noch um die neuen Visa kümmern.


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 29. Januar 2019 unter dem Titel „August 1973 – Reise in die Vergangenheit„.
Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien.
Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten.
Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt.
In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist.
Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister.

Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land.

Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

Leave a Reply