August 1973 – Reise in die Vergangenheit Es sind zwar nur etwas mehr als 500 Kilometer von Kabul bis nach Faizabad, der Hauptstadt der Provinz Badakhshan, aber andere Reisende haben uns erzählt, dass wir für die Strecke, je nach Wetter, drei oder vier Tage brauchen könnten. Ganz im Nordosten Afghanistans solle man sich fühlen, wie

August 1973 – Reise in die Vergangenheit

Es sind zwar nur etwas mehr als 500 Kilometer von Kabul bis nach Faizabad, der Hauptstadt der Provinz Badakhshan, aber andere Reisende haben uns erzählt, dass wir für die Strecke, je nach Wetter, drei oder vier Tage brauchen könnten. Ganz im Nordosten Afghanistans solle man sich fühlen, wie in einer völlig anderen Welt.

Die Sonne ist kaum aufgegangen, als wir aus dem Green Hotel auschecken. Wenig Verkehr auf den Straßen Kabuls und etwas später, auf der Landstraße in Richtung Norden. Bis nach Charikar, rund 70 Kilometer nördlich der Hauptstadt, kennen wir die Strecke schon. Hier sind wir auf dem Weg zu den Buddha-Statuen bei Bamiyan schon durch die Berge gefahren. Anstatt wieder links abzubiegen, fahren wir aber jetzt geradeaus, weiter in Richtung Norden.

Straßenschilder in englischer Sprache habe ich seit kurz hinter Kabul nicht mehr gesehen. Verfahren können wir uns aber eigentlich nicht, es gibt nur diese eine große Straße hier im Gebirge. Serpentinen, Haarnadelkurven und immer wieder großartige Ausblicke wechseln sich ab. Irgendwann muss vor uns der Salang-Tunnel auftauchen. Laut Karte sind es von Charikar bis zum Tunnel nur ungefähr 60 Kilometer. Doch es geht mal wieder langsam, die Straße ist schmal und schlecht und einen der qualmend bergauf schleichenden Lastwagen zu überholen, ist jedes Mal ein Risiko.

Am Salang-Tunnel im Mai 2014 – Foto: seair21

Dann endlich: am frühen Nachmittag fahren wir in den Tunnel hinein. Die gut zweieinhalb Kilometer lange Tunnelröhre ist erst 1965 fertig geworden. Nach einem Transitabkommen zwischen der Sowjetunion und Afghanistan wurde er zum großen Teil von der Regierung in Moskau bezahlt. Es ist der höchste Straßentunnel der Welt und in einem ziemlich schlechten Zustand. Viel sehen können wir nicht, denn die Röhre ist kaum belüftet. Die dichten Rauchfahnen aus den Auspuffrohren der Lastwagen und Omnibusse beschränken die Sichtweite auf ein paar Meter. Ob die Straße einen festen Belag hat, kann ich nicht sehen und nicht fühlen. Tiefe, große Schlaglöcher reihen sich aneinander. Viele Lastwagenfahrer scheinen hier buchstäblich jede Bodenwelle zu kennen. Virtuos kurven sie um die tiefsten Löcher herum, oft unter Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn in voller Breite.

Beleuchtung gibt es hier nicht, das Atmen fällt langsam schwer. Was wird nur passieren, wenn es hier drin einen Unfall oder einfach einen Stau gibt? Die Menschen könnten ersticken, denn gerade in den eiskalten Wintern hier oben wird kein afghanischer Fahrer seinen Motor freiwillig ausmachen. Als wir endlich wieder Tageslicht sehen, haben wir die Provinz Baghlan erreicht und sind auf beinahe 4.000 Metern Höhe. Die Sonne links von uns steht gleißend über den Berggipfeln. Hier und dort sind an den Nordhängen Schneeflecken zu sehen. Rechts im Tal, für uns noch nicht sichtbar, muss ein Fluss rauschen. Nach der Landkarte trägt er den für uns unaussprechlichen Namen Darah-Ye Du Shakh. Es ist Zeit etwas zu Essen.

Am Straßenrand sind kleine Bretterbuden. In Deutschland wären das „Autobahnraststätten“. Lastwagen parken davor und dazwischen. Wir suchen uns die schönste Bude aus. Direkt hinter dem Restaurant rauscht der Fluss. Es duftet nach Gegrilltem und nach würziger Suppe. In der Hütte liegt ein Teppich auf dem Boden und kaum haben wir einen Blick um die Ecke geworfen, werden wir schon aufgefordert, uns zu setzten. Eine Art Wachstuch wird zwischen Monika, Michelle und mir ausgebreitet, ein Krug Wasser und drei Gläser darauf gestellt. Wasser. Woher das wohl kommt? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus dem Fluss hinter dem Holzhaus. Und wo sind eigentlich die Toiletten?

An der nördlichen Einfahrt zum Salang-Tunnel im Juni 2011 – Foto: S.K.Vemmer

Letztendlich trinken wir alle drei davon und es schmeckt. Viel besser aber sind die Fleischspieße, die nach ein paar Minuten vor uns liegen. Hackfleisch, offenbar mit Zwiebeln und grünen Kräutern gemischt, ist um flache, schwertförmige Metallstangen herumgeknetet. Dazu gibt es natürlich Brot – aber völlig anders als in Kabul. Die Fladen sind im Inneren viel dunkler und haben einen kräftigeren Geschmack. Dieses Brot heißt, so wie in Kabul auch, Naan, wird hier im Norden aber mit Hirse- statt mit Weizenmehl zubereitet. Nach einer halben Stunde sind wir gut gesättigt, wollen weiter. Der Wirt verlangt von uns umgerechnet knapp fünf Mark. Anders als zum Beispiel in der Türkei, scheinen die Verkäufer und Gastwirte hier in Afghanistan für Ausländer keine gnadenlos überhöhten „Sonderpreise“ zu machen.

Wir würden noch gerne bis Pol-E-Chomri fahren. Nach unserer Karte ist das eine etwas größere Stadt in der es sicher auch Hotels gibt. Gut 100 Kilometer sollten das noch sein. Es geht begab und die Kurven sind noch brutaler als beim Aufstieg zum Salang-Tunnel. Die Kehren sind an einigen Stellen so eng, dass Busse Mühe haben, in einem Zug um die Kurve zu kommen. Bei Gegenverkehr muss immer eines der Fahrzeuge warten. Der Fluss ist jetzt links von uns, die Landschaft bleibt faszinierend und immer wieder bin ich versucht anzuhalten um zu fotografieren. Geht leider nicht, da wir gern noch vor Einbruch der Dunkelheit ein (oder zwei?) Hotelzimmer hätten.

Knapp schaffen wir es dann auch. Gerade ist die Sonne hinter Fluss und Bergen untergegangen als wir die Stadt erreichen. Pol-E-Chomri ist viel größer als wir erwartet haben und schon nach ein paar Hundert Metern auf den Stadtstraßen sind die Schilder von mindestens drei Hotels zu sehen. Die meisten Häuser sind aus Lehm gebaut, höher als zwei Etagen ist keines der Gebäude. Lastwagen und Fuhrwerke dominieren das Straßenbild. Das erste Hotel ist dann auch schon das richtige für uns. Es gibt einen hoffentlich sicheren Abstellplatz für das Auto und zwei Zimmer für uns. Michelles vorsichtiger Einwurf, dass auch eines für uns drei reichen würde, wird vom Wirt ignoriert. An der Rezeption liegt ein mit Schreibmaschine geschriebenes Blatt Papier mit Informationen über die Stadt. Danach ist Pol-E-Chomri die Hauptstadt der Provinz Baghlan und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Gut 25.000 Menschen sollen hier leben. Arbeit haben viele der Männer in der großen, mit tschechoslowakischer Hilfe aufgebauten Zementfabrik. Der ersten derartigen Fabrik in Afghanistan. Etwas außerhalb des Ortes gibt es eine Kohlenmine, die schon seit Jahrzehnten in Betrieb sein soll.

Verglichen mit Kabul sind wir hier im vergangenen Jahrhundert gelandet. Männer hoch zu Ross auf der staubigen Straße, Esels- und Ochsengespanne, Traktoren wie aus den fünfziger Jahren und Handwerksbetriebe, die mit Werkzeugen arbeiten, die man in Mitteleuropa höchstens noch im Museum findet.

Fahrt durch den Salang-Tunnel im Jahr 2009 – immerhin schon mit Beleuchtung – Foto: Michal Vogt

Michelle hat Zahnschmerzen und braucht einen Zahnarzt. Der Hotelbesitzer sagt, es gäbe sogar zwei und beschreibt uns den Weg zu dem Dentisten, den er für den besseren hält. Zu Fuß sind es keine zehn Minuten und seine Praxis ist schon von weitem zu erkennen. An der Fassade des Hauses hängt ein großes Blechschild, darauf das gemalte Bild eines überdimensionalen Backenzahns. Unten im Gebäude ist eine Apotheke und dort fragen wir nach dem Arzt. „Das bin ich,“ sagt der Apotheker in verständlichem Englisch. „Geht die Treppe hoch und wartet ein paar Minuten.“ Er bedient gerade eine Frau, die ein Rezept präsentiert und gibt ihr ein Antibiotikum.

Eine Etage höher stehen ein paar altersschwache Stühle. Das muss das Wartezimmer sein. Daneben ein Durchgang, der durch einen Vorhang verschlossen ist. Offensichtlich der Behandlungsraum. Nach ein paar Minuten kommt der Dentist, öffnet die Gardine und bittet Michelle auf seinen Behandlungsstuhl. Monika darf mit rein – ich muss draußen bleiben doch der Vorhang bleibt offen. Die Einrichtung der Praxis hat sicher schon bessere Tage gesehen. Sitzfläche und Lehne des Stuhls sind abgeschabt und an einigen Stellen aufgerissen. Immerhin ist er hydraulisch verstellbar – wenn auch nicht so richtig funktionsfähig. Mit Pedalen wird die Sitzfläche etwas nach oben gepumpt, die Lehne nach hinten gelegt. Irgendwas scheint undicht zu sein, Michelle sinkt, einschließlich Stuhl, wieder langsam nach unten. Sie hat Schweiß auf der Stirn. Vielleicht hat sie den Bohrer gesehen. Etwas entfernt ist ein Elektromotor angebaut. Von dort läuft, über ein kompliziertes Gelenksystem, eine biegsame Welle zum Griffstück. Der Arzt, eben noch Apotheker, weiß zwar noch gar nicht, wo Michelle Schmerzen hat, nimmt den museumsreifen Bohrer aber schon mal in die Hand. Ich schleiche mich in den Behandlungsraum, Herr Doktor sieht es wohl, sagt aber nichts.

Mit ihren angsterfüllten, fast suppentellergroßen Augen sieht sie den „Arzt“ an und und versucht zu erklären, dass es einer ihrer Backenzähne ist, der ihr Schmerzen bereitet. Durch leichtes Klopfen mit einer Art Löffel ist der richtige Zahn schnell gefunden. Da das nächstgelegene Röntgengerät vermutlich rund eine Tagesreise südlich in Kabul steht, bleibt dem Dentisten gar nichts anderes als zu bohren und dann einen Blick in den Zahn zu werfen.

Die vorsintflutliche Bohrmaschine macht einen Lärm wie ein Propellerflugzeug. Der Spezialist drückt mir eine kleine Sprühflasche mit Wasser in die Hand, um die Bohrstelle zu kühlen, während Michelle sich in die Armlehnen des Stuhls verkrallt. Mit Lauten wie „Häängr, häängr“ macht die Frau im Sessel sich bemerkbar. Der Bohrer ist im Hohlraum des Zahns gelandet, der Nerv scheint völlig intakt zu sein, Michelle bäumt sich auf, der Arzt zuckt zurück, ein Schrei hallt durch das Apothekengebäude.

Nachdem das Mädchen langsam wieder zu Atem gekommen ist, lässt sie den Mann wieder ran an ihren Zahn. Ohne Bohrer. Mit dem gerichteten Licht seiner Stirnlampe und einem Spiegel versucht „Herr Doktor“ das Innere des Zahns zu begutachten. Ergebnis: leichte Entzündung, Nerv muss raus, Zahn muss gefüllt werden. Oh weh! „Nerv muss raus“, klingt gar nicht gut. „Alles kein Problem“, versucht der Zahnarzt Michelle zu beruhigen. Er hätte da ein wunderbares Mittel zur Betäubung, um den Nerv „völlig schmerzfrei“ ziehen zu können.

Jetzt zittert die Frau, in die ich noch immer frisch verliebt bin. Doch mit Zahnschmerzen ins Ungewisse fahren, das will sie auf keinen Fall – und zurück nach Kabul auch nicht. Der Apotheker kommt mit einem geheimnisvollen Fläschchen doch Michelle verlangt nach einer Spritze. „Geht nicht!“ ist seine eindeutige Antwort. Er habe nur noch genügend Betäubungsmittel für zwei Injektionen – und das müsse er für wirklich schwere Fälle aufheben.

Bedenkzeit für Michelle, denn unten im Laden klingelt eine Glocke. Sie greift nach meiner Hand, Tränen kullern über ihre Wangen. „I’ll do it,“ stimmt sie der Spezialnarkose zu. Herr Doktor kommt zurück, sieht sie fragend an – sie nickt. Ein Draht mit einem Stückchen Stoff am Ende wird in die Flasche getaucht, der Zahn mit der Flüssigkeit betupft. Zwei- oder dreimal. Dann kommt eine Art sehr feier Pinzette zum Einsatz, Michelle zuckt, verkrampft, hält aber den Mund weit offen. Donnerwetter, was hat die Frau für Kraft in ihrer Hand! Schweißperlen auf ihrer Stirn und mit triumphierendem Blick wird der an der Pinzette hängende Nerv präsentiert.

Was das wohl für ein Betäubungsmittel war? So etwas wie Chlorwasserstoffäther vielleicht? Danach geht es sehr schnell. Das Innere des Zahn wird mechanisch und chemisch und fast schmerzfrei gereinigt. Dann kommt die Füllung, die mühevoll mit der Hand angerührt wird. Ordentlich fest wird die Masse in den Hohlraum gedrückt. Fertig. Sechs Stunden darf Michelle nichts essen und nur Wasser trinken. Die Rechnung wird präsentiert – fast 20 US-Dollar muss Michelle über den Ladentisch der Apotheke schieben.

Ruhe für den Rest des Abends. Aus Solidarität essen auch Monika und ich nichts. Am nächsten Morgen wollen wir früh raus. Es sind noch über 300 Kilometer bis nach Faizabad. Es könnte knapp werden, doch wir wollen versuchen, die Strecke an einem Tag zu schaffen..


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 26. Februar 2019 unter dem Titel „August 1973 – Faizabad – an der Straße nach China„.
Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien.
Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten.
Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt.
In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist.
Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister.

Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land.

Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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