August/September 1973 – Faizabad, an der Straße nach China Hier in Pol-E-Chomri, in rund 600 Metern Höhe, ist es am Morgen angenehm kühl. Michelle darf wieder essen und die Zahnschmerzen scheinen der Vergangenheit anzugehören. Fladenbrot, Käse, Tomaten, gebratene Kartoffeln und starker grüner Tee. Gerade ist die Sonne aufgegangen, doch wir haben schon gepackt und sind
August/September 1973 – Faizabad, an der Straße nach China
Hier in Pol-E-Chomri, in rund 600 Metern Höhe, ist es am Morgen angenehm kühl. Michelle darf wieder essen und die Zahnschmerzen scheinen der Vergangenheit anzugehören. Fladenbrot, Käse, Tomaten, gebratene Kartoffeln und starker grüner Tee. Gerade ist die Sonne aufgegangen, doch wir haben schon gepackt und sind reisebereit.
Gut 100 Kilometer bis nach Kunduz liegen vor uns. Dort wollen wir eine kleine Pause einlegen und dann noch einmal fast 250 Kilometer bis nach Faizabad in der nordöstlichen Ecke von Afghanistan. Wir kommen wunderbar voran und genießen die großartige Berglandschaft um uns herum. Die Gipfel rechts und links der Straße ragen weit über 1000 Meter in den wolkenlosen Himmel. Kilometerlang folgen wir einem Fluss und es ist nur sehr wenig Verkehr. Einzelne Abschnitte der Straße sind asphaltiert, meistens sind wir auf Schotter- oder Erdpisten unterwegs. Und es geht – zumindest für afghanische Verhältnisse, wirklich schnell. Nach rund zwei Stunden, es ist noch nicht einmal 10 Uhr, erreichen wir die Stadt Kunduz.
Ein handgemaltes Schild am Ortseingang zeigt an, dass die Stadt wohl fast 40.000 Einwohner hat und auf einer Meereshöhe von knapp unter 400 Metern liegt. Der Reiseführer von Michelle schreibt, dass Kunduz ein wichtiges Zentrum für die Landwirtschaft ist und dass die Baumwollproduktion und -verarbeitung die Stadt reich gemacht hat. Am Straßenrand wird frisches Obst und Gemüse angeboten und wir decken uns mit einer Melone und ein paar eiskalten Gurken ein. Wegzehrung bis nach Faizabad – wenn wir es heute schaffen.
Noch schnell tanken und dann geht es weiter. Doch an der Tankstelle gibt es ein Problem: es gibt nur Diesel, seit Tagen wartet man auf den Tankwagen, der das von uns benötigte Benzin bringen soll. Etwa 30 Liter sind noch in unserem Tank, weitere 40 Liter in Kanistern. Wenn alles glatt geht, reicht das auf jeden Fall bis zum Ziel. Doch wenn nicht alles glatt geht? Wenn wir einen Umweg fahren müssen? Ob es unterwegs, vielleicht in Taloqan, auf halben Wege, noch ein Tankstelle gibt? Der Tankwart sagt, ja, gibt es – aber die werde vom selben Tankwagen beliefert, wie die hier in Kunduz – und auch dort könne das Benzin ausverkauft sein. Sollen wir das Risiko eingehen oder hier warten?
Fast eine halbe Stunde diskutieren Monika, Michelle und ich. Wir wägen ab, rechnen, sehen uns auf der Landkarte die möglichen Umwege an. Und vor allem, wie gebirgig die Strecke ist. Dann entscheiden wir uns für das Risiko und fahren weiter. „Was sind schon 250 Kilometer“, denken wir uns…
Es wird ein „langer Ritt“ auf einer miserablen Straße. Schlaglochstrecken wechseln sich mit Wellblechpisten ab, Teile der Straße sind abgerutscht und nur schwer passierbar, defekte Lastwagen stehen zu Dutzenden am Wegesrand. Kurz hinter Taloqan überqueren wir einen Pass, der nach dem alten verrosteten Schild eine Höhe von 1.650 Metern haben soll. Auf der Karte ist er nicht verzeichnet.
Wir kommen nervend langsam voran. Natürlich gibt es unterwegs kein Benzin – und auch keine kalten Getränke. Außen am Auto hängt wieder unser mit Wasser gefüllter Leinensack, der durch die Verdunstungskälte seinen Inhalt wenigstens etwas kühl hält. Es ist, vor allem durch den Wind, entsetzlich staubig. Der Hals kratzt und das schönste, was ich mir jetzt vorstellen kann ist ein großer Schluck eiskaltes Wasser. Gegen 18 Uhr haben wir noch nicht einmal zwei Drittel der Strecke geschafft – und bei Dunkelheit fahren möchte ich hier oben in der Wildnis auf keinen Fall.
Das Nest, in dem wir nach Sonnenuntergang landen, heißt Keshem. 20 Häuser stehen hier, vielleicht auch 30. Noch 100 Kilometer bis zum Ziel. Hier würden wir gerne übernachten. Ein Hotel oder eine andere Herberge gibt es hier natürlich nicht. Wir stellen uns auf einen Parkplatz mitten im Ort. Ein paar Lastwagen stehen dort schon, Fahrer machen sich zum Schlafen bereit. Es ist nicht einfach für die beiden Mädchen, denn es darf niemand merken, dass in unserem Auto nicht nur Männer sitzen. So bin ich es natürlich, der Wasser von einer Pumpe holt, die auch die LKW-Fahrer benutzen. Auf die Toilette? Nein, für Monika und Michelle (zumindest jetzt noch) keine Chance.
Zu dritt ist es eng im Auto – selbst wenn alle drei gerne nah aneinander liegen. Ich muss mich im Schlaf drehen können. Eine unruhige Nacht wird es, die ich letztendlich quer über den Vordersitzen verbringe. Der Rücken schmerzt, ausgeschlafen ist niemand, und Monika jammert, weil sie dringend auf die Toilette muss. Schon kurz vor Sonnenaufgang sind die Lastwagen wieder weg. Wir fahren ein paar Kilometer und finden dann einen Platz für unsere Morgentoilette.
Gestern noch habe ich gedacht, dass die Straße schlecht ist. Ich habe mich geirrt. Gemessen an dem, was da heute vor unseren Rädern liegt, war die Schlaglochstrecke so etwas wie eine deutsche Autobahn. Es geht manchmal nur mit Schrittgeschwindigkeit weiter. Nicht Schlaglöcher sind das Problem – die gibt es auch reichlich. Geröll ist es, was die Straße zu weiten Teilen bedeckt. Es sieht aus, als hätte es stark geregnet und Erdrutsche wären von den umliegenden Bergen auf die Straße gespült worden.
Kein Dorf, in dem wir etwas zum Essen oder zu Trinken bekommen können, kein kühler, klarer Bach in der Nähe. Gut, dass unser Wassersack noch mehr als halbvoll ist. Es ist heiß geworden und Schatten für eine Ruhepause gibt es nirgendwo. Drei Mägen knurren und ich bin kurz davor, den „Abstecher“ von Kabul in den Nordosten zu bereuen. Seit Stunden fließt links von uns, im Tal, ein graubrauner Fluss. Nach unserer Karte ist es der Koktscha River, der uns bis nach Faizabad führen wird. Die Quellflüsse des Koktscha entspringen in mehr als 3.500 Metern Höhe im Hindukusch-Gebirge. Nach dem Zulauf etlicher Nebenflüsse mündet er als relativ großer Strom nahe der Grenze zu Tadjikistan in den Amudarja. Das Wasser des Koktscha endet irgendwann im Aral-See.
Trotz der grauenvollen Strecke: Ohne Pannen, Umleitungen, oder Unfälle erreichen wir gegen 18 Uhr Faizabad, die Hauptstadt der Provinz Badakhshan. Nun sind wir mitten in einem berüchtigten Malariagebiet.
Es gibt offensichtlich kein Hotel, keine Information für Touristen aber immerhin ein paar Restaurants. Um in die Innenstadt zu kommen, müssen wir den Fluss auf einer schmalen Brücke überqueren. Und drüben, auf der anderen Seite, sehen wir dann auch zwei „Guest-Houses“. Es wird langsam Dunkel und wir wurden schon in Kabul gewarnt, dass hier in Faizabad, auf einer Höhe von rund 1.200 Metern, die Nächte bitterkalt werden können. Das Gästehaus, gleich auf der rechten Seite, schräg gegenüber der Polizeistation, sieht vertrauenerweckend aus.
Der Besitzer sieht uns schon kommen und eilt uns entgegen. Oh Schreck! Der Mann spricht kein Englisch, dafür aber Französisch. Nun muss ich wohl mein ungeliebtes Schulfranzösisch hervorkramen… Geht aber ganz gut, da auch sein Französisch weit davon entfernt ist, perfekt zu sein. Zwei Zimmer (wir haben uns nicht getraut nach nur einem zu fragen) für mindestens zwei Tage haben wir jetzt und einen sicheren Abstellplatz für das Auto.
Im ganzen Haus ist es dunkel, nur hin und wieder hilft das schwache Licht einer Petroleumlampe. In den Zimmern sehen wir dann, dass gar keine elektrische Beleuchtung vorgesehen ist. Vom Flur aus erreicht man ein Badezimmer und eine Toilette und es gibt nur warmes Wasser, das offensichtlich aus einer Zisterne auf dem Dach kommt. Der Wirt hat versprochen, uns ein paar Fleischspieße zuzubereiten und für ein kühles Getränk zu sorgen.
Eine halbe Stunde später, es ist inzwischen stockdunkel draußen, sitzen wir in einer Art Gastraum im Erdgeschoss auf dem Fußboden. Tische gibt es nicht, die Speisen werden auf einem kleinen Teppich serviert, der in unserer Mitte liegt. Es gibt fünf Gläser, fünf Plastikteller und fünf Esslöffel. Da scheint also noch jemand zu kommen. Tatsächlich dauert es nur Minuten und ein Paar gesellt sich zu uns. Sie sind in unserem Alter, kommen aus Kanada und sprechen beide fließend Englisch und Französisch. Beide sind sie schon seit mehreren Wochen in Faizabad und auf der Suche nach Edelsteinen. Sagen sie.
Von den beiden und mit ihrer Hilfe vom Wirt erfahren wir eine Menge über die Stadt. Rund 5.000 Menschen sollen hier leben, die meisten von ihnen sind Usbeken und Tadjiken. Es gibt in der ganzen Stadt keinen elektrischen Strom – einige wenige Geschäfte haben kleine Generatoren. Lebensmittel und Getränke werden in tiefen Kellern und im Fluss gekühlt. Auch Leitungswasser ist nicht verfügbar. Wasser kommt aus dem Fluss und kleinen Nebenflüssen oder auch privaten Tiefbrunnen. Etwas oberhalb der Stadt sei aber eine große Zisterne im Bau, aus der in Zukunft öffentliche Wasserstellen im Ort versorgt werden sollen.
Bis zur chinesischen Grenze im Nordosten sind es „nur“ noch ungefähr 500 Kilometer. Mindestens fünf Tagesreisen und nur mit geländegängigen Fahrzeugen befahrbar – sagen die zwei Kanadier. Immerhin, die beiden waren dort und haben gesehen, dass es einen offiziellen Grenzübergang gibt. Schade, das wird für uns mit unserem VW-Bus wohl nichts. Ich wäre gern an die chinesische Grenze gefahren. Marco Polo immerhin hat die Strecke schon im Jahr 1274 geschafft, soll mit seiner Karawane aber mehrere Wochen unterwegs gewesen sein. Eine Forschungs-Expedition der Technischen Universität Graz hat dann vor drei Jahren erstmals angefangen, das Gebiet zwischen Faizabad und der Grenze zu China, den so genannten Wakhan-Korridor, zu kartografieren.
Badakhshan, die Provinz deren Hauptstadt Faizabad ist, sei die ärmste Provinz Afghanistans, sagt der Wirt. Ein paar Sätze später aber erklärt er, dass die Region der Stadt Faizabad im Mohnanbau Platz eins in Afghanistan einnimmt. Zugleich hat Badakhshan die weltweit größten Vorkommen des Halbedelsteins Lapislazuli und in etlichen Minen zwischen der Stadt und der Grenze nach China werden Rubine, Smaragde, Amethyste und Gold gefördert. Eine eigenartige Welt hier oben im Norden…
Eine wunderbare Nacht, erholsamer Schlaf und ein reichhaltiges Frühstück liegen hinter uns. Am Morgen wird uns klar, dass auch das kanadische Paar offiziell zwei getrennte Zimmer bewohnt. Michelle, Monika und ich wollen ein paar Stunden zu Fuß durch den Ort laufen. Schon alleine der Markt ist ein lohnender Besuch. Von Buden aus Brettern, Ästen und Planen werden Dinge zum Verkauf angeboten, die wir hier, ganz im Nordosten Afghanistans, nie erwartet hätten. Ersatzteile für Fahrräder, Petroleumlampen in jeder Form und Größe, handbetriebene Dynamos, Medikamente mit wohlklingenden Namen, mechanische Nähmaschinen, Kleidung in jeder Form, Farbe und Größe, Werkzeuge, Sonnenschirme und fast unendlich viel anderes.
Ein Stück flussaufwärts finden wir ein großes Gebäude aus Natursteinen. Es sieht aus wie eine alte Karawanserei, mit Toren, die gut für Kamele geeignet scheinen. Doch der Bau scheint leer zu stehen. Das Holz der Fenster und Türen verrottet langsam und auch eine Art Steg, unten am Fluss, sieht morsch und wacklig aus. Wir schlendern durch den Ort, hier fast am Ende der Welt und haben das Gefühl, 100 oder 200 Jahre in der Zeit zurückversetzt zu sein. Nur wenige Autos sind zu sehen, die meisten davon LKWs. Eine Menge Ochsen- und Eselsgespanne. Die Mehrzahl der Transportkarren wird von Männern gezogen. Beeindruckend ist ein Marktstand, an dem fast ausschließlich Büstenhalter verkauft werden. Vor dem Stand ausgestellt und völlig unversteckt.
Am frühen Nachmittag sind die Straßen und Gassen dann wie leergefegt. Ein paar Kinder toben an einer ruhigen Stelle im Wasser des Flusses herum. Es ist unerträglich heiß geworden und wir flüchten uns ins Gasthaus. Ich bin sicher, dass der Wirt übertreibt doch er behauptet, dass die Temperatur inzwischen auf über 40 Grad gestiegen sei. Schon morgen wollen wir uns auf den Weg zurück nach Kabul machen und von vornherein für unterwegs zwei Übernachtungen einplanen…
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 13. März 2019 unter dem Titel „September 1973 – Nach Kabul mit Hindernissen„.
Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien.
Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten.
Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]