September 1973 – Konjunktur für Stempelmacher Zurück in Kabul, zurück im Green Hotel in der Chicken Street. Wir bekommen ungefragt ein Dreibettzimmer und niemand weiß warum. Michelle hat sich wieder getraut zu fahren und ich habe verkrampft hinten gesessen und getan, als wäre ich völlig entspannt. Ein bisschen traurig sind wir alle drei. In wenigen

September 1973 – Konjunktur für Stempelmacher

Zurück in Kabul, zurück im Green Hotel in der Chicken Street. Wir bekommen ungefragt ein Dreibettzimmer und niemand weiß warum. Michelle hat sich wieder getraut zu fahren und ich habe verkrampft hinten gesessen und getan, als wäre ich völlig entspannt.

Ein bisschen traurig sind wir alle drei. In wenigen Tagen werden sich unsere Wege trennen. Monika und ich wollen weiter durch Pakistan und Indien in das erst vor knapp zwei Jahren unabhängig gewordene Bangladesch. Michelle muss von Kabul aus nach London fliegen, da sie einen Studienplatz bekommen hat und rechtzeitig an der Uni sein muss. Ein paar Tage haben wir zwar noch Zeit doch vorsichtshalber tauschen wir schon einmal Adressen und Telefonnummern aus und versprechen uns gegenseitige Besuche.

Die Situation mit unseren Visa für Afghanistan scheint weiterhin unverändert kompliziert zu sein. Da in unseren Reisepässen Stempel von der „Königlich Afghanischen Botschaft“ sind, sind diese Sichtvermerke nicht mehr gültig. Das Königreich ist ja Geschichte und wir brauchen Ausreisevisa der neuen Republik. Und tatsächlich, so wie angekündigt, gibt es diese ausschließlich beim Passport-Office in Kabul.

Dunst über Kabul – Foto: Dieter Herrmann

Die Behörde ist im Stadtbezirk Shar-E-Naw, nicht weit von der indischen Botschaft entfernt. Von unserem Hotel aus gut zu Fuß zu erreichen. Gleich nach dem Frühstück machen wir drei uns auf den Weg. Keine 15 Minuten und wir sehen die Schlange bunt gekleideter Ausländer am Eingang des Passamtes. Draußen stehen bestimmt 30 oder 40 Menschen – wie viele im Gebäude noch anstehen, kann ich nicht abschätzen.

Die Stimmung ist entspannt und es geht das Gerücht um, dass der Beamte, der in lateinischer Schrift gedruckte Pässe lesen kann, gerade nicht im Hause ist und dass alle auf ihn warten würden. Klar ist zumindest, dass drinnen derzeit niemand abgefertigt wird, denn es verlässt auch keiner das Haus. So gegen 10:00 Uhr kommt Bewegung in die Gruppe der Wartenden. Eine Frau in Polizeiuniform steht auf der Treppe und verteilt Antragsformulare für neue Visa. Na endlich! Die Dokumente werden in kleinen Stapeln nach hinten durchgereicht. Vorne ist ein freundliches Grummeln zu hören, vereinzelt auch erstauntes Lachen. Als die Formulare bei uns ankommen, ist klar, warum: Die Anträge für ein neues Visum sind ausschließlich in den Sprachen Dari und Paschtu verfasst. Und das kann hier vermutlich niemand lesen.

Mit großen Gesten bittet die Beamtin um etwas Geduld, und es dauert tatsächlich nur ein paar Minuten, dann kommen vier oder fünf Schreiber von der indischen Botschaft zu uns herüber. Die Männer bringen einen winzigen Klapptisch, einen noch kleineren Hocker und eine (Reise-)Schreibmaschine mit. Kein ungewöhnliches Bild, denn diese Schreiber findet man in Afghanistan und vielen anderen Ländern vor fast jeder Behörde, jedem Amt. Was erstaunlich ist: die Schreiber können offensichtlich lateinische Schrift lesen. Bei einer Analphabetenrate von fast 70 Prozent in Afghanistan sicherlich eine besondere Befähigung. Und die Männer legen auch gleich richtig los. Nach einer Weile wird klar, dass sie nur vier bis fünf Minuten pro Formular und Reisepass brauchen. In einer Stunde sollten auch wir unseren neuen Antrag haben.

Doch es kommt anders. Es fängt plötzlich an zu regnen – und kein Dach weit uns breit, unter dem man sich unterstellen könnte. Doch die Schreiber wissen Bescheid. Nur gut 100 Meter entfernt gibt es ein paar kleine Schreibwarengeschäfte.

Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag im Jahr 1073

Unser“ Schreiber zieht uns drei und ein paar andere Leute hinter sich her durch die ersten dicken Tropfen. Seine Reiseschreibmaschine ist fast komplett unter seiner Jacke verschwunden, um sie vor dem Regen zu schützen.

Hier werden Kugelschreiber und Bleistifte verkauft, Radiergummis und Lineale. Hier kaufen die Schreiber sicherlich auch ihr Schreib- und Kohlepapier. Schreibpapier, das kann ich beobachten, geht nicht in Hunderter- oder Fünfhunderter-Paketen über den Ladentisch sondern wird einzeln verkauft. Blatt für Blatt.

Ich sitze auf einer Kiste, in der offensichtlich Schultafeln aufbewahrt werden. Es herrscht qualvolle Enge – aber irgendwie geht es. Zumindest ist es trocken. Draußen herrscht Weltuntergangsstimmung. Ein Wolkenbruch, bei dem die Tropfen so dicht fallen, dass man nur ein paar Meter weit gucken kann. Es ist fast dunkel – Strom gibt es im Schreibwarengeschäft ohnehin nicht.

Interessant ist die kleine Nische hinter dem Ladentisch. Da sitzt ein junger Mann, fast noch ein Kind, und schnitzt mit winzigen, scharfen Messern Buchstaben und einfache Symbole aus einer Gummiplatte. Rund 5 x 4 Zentimeter groß werden die Stempel, die er herstellt. „VISA“ steht oben drüber. Darunter „Republic of Afghanistan“.

Ich bin an der Reihe. Der Schreiber nimmt meinen Reisepass, spannt ein Formular mit drei Durchschlägen in seine Maschine ein und fängt an zu tippen. Nach nicht einmal fünf Minuten ist er fertig. Keine einzige Frage, kein Blick zu mir. Dann Monika. Immerhin würdigt der Mann mit der Schreibmaschine sie eines Blickes – so, wie er später auch Michelle hin und wieder ansieht. Jetzt müsste es nur noch aufhören zu regnen, dann könnten wir ein paar Häuser weiter zum Fotografen gehen.

Irgendwann klart es dann auch wieder auf. Die Schreiber trotten wieder zum Passport-Office und wir zum Fotografen. Riesige Pfützen stehen auf der Straße – einen Bürgersteig gibt es nicht. Mit völlig durchnässten Sandalen kommen wir im Fotogeschäft an. Es riecht intensiv nach Chemikalien, in einer Vitrine steht eine Kodak-Balgenkamera und daneben eine „Kodak-Instamatic“ aus den 60er Jahren. Im Regal hinter dem Tresen eine große Zahl von Filmen. Kodak ist natürlich vertreten, Agfa und zu meiner Überraschung auch ORWO, die Filme aus der DDR.

Der Mann will wissen, ob wir es eilig haben. Er bietet uns „normale“ Passfotos an. Die wären in zwei Tagen abholbereit und würden einen Dollar für vier Stück kosten. In schwarzweiß natürlich. Und dann hätte er auch noch Fotos, die wir gleich mitnehmen könnten. Hat der wirklich einen Polaroid-Kamera, hier, in diesem winzigen Laden in Kabul? Ja! Er hat. Sofortbilder mit einer Polaroid-Land-Kamera. Vier Stück für 10 Dollar! Das ist ein stolzer Preis! 10 Dollar für jeden. Für 30 Dollar können wir ziemlich oft zum Dinner ins das beste Restaurant der Stadt gehen…

Wir machen es trotzdem. Rund eine Viertelstunde später haben wir alle drei jeweils vier schwarzweiße Passbilder und natürlich unseren fertigen Antrag mit drei Kopien. Weitere zehn Minuten später stehen wir wieder vor dem Passport-Office nahe der indischen Botschaft. Doch die haben zu. Der Flur und wohl auch ein paar Büroräume stehen unter Wasser und von drinnen schallt uns ein „Tomorrow, tomorrow“ entgegen.

Natürlich stehen wir am nächsten Morgen schon kurz nach acht bei der Passbehörde auf der Treppe. Es war eine total beschissenen Nacht, wussten wir doch, dass in zwei Tagen die Trennung unseres Trios stattfinden würde. Unausgeschlafen und mit dröhnenden Kopfschmerzen geben wir unsere Visaanträge mit den Kopien ab, die Fotos und unsere Pässe. Zusätzlich ist noch eine Gebühr von 10 US-Dollar pro Person zu entrichten. „Wait outside“, bittet uns die englisch sprechende Dame in Uniform. Und dann dauert es keine halbe Stunde und ein bärtiger alter Mann bringt uns die Reisepässe heraus. Er vergleicht kurz die Fotos in den Pässen mit unseren Gesichtern, befindet alles für gut und drückt uns die Reisepässe in die Hand.

Das Visum sieht abenteuerlich aus, die Schrift im Stempel ist kaum zu lesen (er ist ja wohl auch handgeschnitzt) und es ist nur noch eine Woche gültig. Für uns ist das in Ordnung, wir wollten alle drei ohnehin aus Afghanistan raus. Andere Reisende haben Probleme damit und haben sich auch schon erkundigt, was zu tun ist. Eine Schweizerin, vielleicht Mitte 20 und mit einer Figur wie Arnold Schwarzenegger, hat die Auskunft bekommen, dass sie in jedem Fall ausreisen müsse aber ohne Probleme zum Beispiel in Pakistan oder im Iran eine neues Visum beantragen könne. Sie ist am Boden zerstört und rechnet sich gerade aus, was der „Kurztrip“ zur Beantragung eines neuen Visums kosten wird.

In ihrem Pass ist nicht so ein „exotischer“ Stempel, wie wir ihn jetzt haben. Sie erzählt, dass es noch vor einigen Tagen gar keine Gummistempel gab. Die Beamten haben sich in den ersten Tagen der Republik ziemlich fantasievolle Stempel aus Kartoffeln geschnitzt…


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 16. April 2019 unter dem Titel „September 1973 – Abschied“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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