September 1996 – Koranschule in Pakistan Tatsächlich kann man in der Hauptstadt Islamabad auch durchaus preiswert wohnen. Das „New Capital Guest House“ ist Quartier für mein türkisches Kamerateam und mich. Ali und Orhan teilen sich ein Zimmer, da sonst nichts frei ist – ich habe das Glück, ein Einzelzimmer bewohnen zu dürfen. Die beiden Kollegen

September 1996 – Koranschule in Pakistan

Tatsächlich kann man in der Hauptstadt Islamabad auch durchaus preiswert wohnen. Das „New Capital Guest House“ ist Quartier für mein türkisches Kamerateam und mich. Ali und Orhan teilen sich ein Zimmer, da sonst nichts frei ist – ich habe das Glück, ein Einzelzimmer bewohnen zu dürfen. Die beiden Kollegen können es kaum fassen, dass Pakistan offiziell ein alkoholfreies Land ist – auch wenn es hier, wie im Iran oder in Afghanistan, immer Mittel und Wege gibt. Wenn’s denn sein muss.

Ali und Orhan, das ist mein türkisches Kamerateam. Wann immer Kay, mein deutscher Freund und Kameramann nicht oder nicht schnell genug verfügbar sein kann, oder wenn Kay dem Sender zu teuer ist, müssen die beiden Kollegen aus Ankara ran. Ali bezeichnet sich als „Producer“, ist etwas älter als ich, hat kaum noch Haare auf dem Kopf und spricht, neben seiner Muttersprache, fließend Englisch und Französisch. Orhan ist so etwas wie sein Schüler. Gerade Mitte 20 und ohne Auslandserfahrung ist er froh über jeden Kamera-Job, den er bekommen kann. Und er lernt schnell. Neben Türkisch spricht natürlich auch Orhan gutes Englisch.

Islamabad mit der 1984 gebauten Faisal-Moschee

Wir wollen nur für ein paar Tage in Islamabad sein. „Klinken putzen“ beim Roten Kreuz und bei den Vereinten Nationen. Ausschließlich Flugzeuge dieser beiden Organisationen fliegen nach Kabul – und genau dort wollen wir hin. Kommerzielle Fluggesellschaften wagen keine Flüge in die Hauptstadt Afghanistans mehr. Die ARIANA, einst stolze staatliche Fluggesellschaft Afghanistans, liegt weitgehend am Boden, Infrastruktur und Flugzeuge fast vollständig zerstört.

Nach jahrelangen Kämpfen in und um Kabul stehen jetzt die Truppen der Taliban vor den Stadttoren. Nur die Soldaten um den ehemaligen Mujaheddin und späteren Verteidigungsminister Ahmed Shah Mahsoud halten noch die Stellung. Noch. Die Menschen in Kabul hungern, die Stadt ist zu drei Vierteln zerstört. Kein Strom, kaum Trinkwasser, dafür Raketen und Artillerie jede Nacht und Tretminen fast überall. Ein funktionierendes Telefonnetz gibt es in Afghanistan schon seit Jahren nicht mehr – Mobilfunk ohnehin nicht.

Wir sind noch in Islamabad, haben aber für den übernächsten Morgen einen Flug mit einem Flugzeug des Roten Kreuz von Peshawar nach Kabul. Im Hotel ist Auschecken angesagt. Hanif, unser bewährter Taxifahrer steht schon bereit, uns die 200 Kilometer in Richtung Westen, nach Peshawar zu bringen. 200 Kilometer bedeuten hier, dass wir mindestens fünf bis sechs Stunden unterwegs sein werden. Zudem würde ich gerne noch eine Madrasa, eine Koranschule nicht weit von Nowshera, an der Strecke nach Peshawar besuchen. Wegen ihrer beeindrucken Größe war mir die Schule schon auf früheren Reisen aufgefallen.

Für diesen Auftrag ist es von besonderem Vorteil, zwei Kollegen an meiner Seite zu haben, die der islamischen Religion angehören. Beide wissen, wie man sich gegenüber muslimischen Autoritätspersonen zu verhalten hat, welche Worte und Sätze die richtigen sind und wer sich wann zu verbeugen hat. Und beide haben ihre liebe Mühe damit, mich zu briefen. Es ist aber auch ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass weder Ali noch Orhan die Religion, in die sie hineingeboren wurden, allzu ernst nehmen.

Ali hatte ich schon in bei der Anreise einen Besuch in meiner „Wunsch-Madrasa“ angekündigt und der Imam einer Moschee in der Nähe unseres Hotels hatte ihm versprochen, uns hier, rund ein Dutzend Kilometer östlich von Peshawar in der Schule anzumelden. Das scheint vorzüglich geklappt zu haben. So gut, dass ich vom ersten Moment das Gefühl habe, dass uns hier ein potemkinsches Dorf vorgeführt wird.

Drei fröhliche ältere Herren mit grauem Turban empfangen uns schon auf dem Parkplatz, der offensichtlich zu der Anlage gehört. Ein Glas Saft steht für jeden von uns bereit. In der Schule: ordentlich aufgeteilte Klassenräume und, tatsächlich, auch Mädchen sind in einem abgetrennten Teil der Madrasa zu sehen. In einer Klasse wird offensichtlich Mathematik gebüffelt, in einer anderen liest ein kleiner Junge laut aus dem Koran vor. Und es wird Biologie unterrichtet. Demonstrationsobjekt: der nachgebildete Torso eines Menschen mit einzeln entnehmbaren Organen. So etwas gibt es kaum in einer der vielen als „Imam Hatip Lisesi“ bezeichneten, vergleichsweise liberalen Koranschulen in der Türkei. In einer der Klassen wird wohl sogar so etwas wie Englisch unterrichtet. Verstehen kann ich den Lehrer allerdings nicht.

Bildung ist in Pakistan so teuer, dass arme Leute es sich nicht leisten können, ihre Kinder auf eine „normale“ Schule oder gar Universität zu schicken. Die einzige Chance, die Kinder aus der riesigen Unterschicht haben, sind Madrasas. Es wird nicht jeder aufgenommen – wenn es dann aber klappt, ist die Schule selbst kostenlos und zusätzlich werden die Schüler verpflegt und untergebracht. Eine riesige Entlastung für die am Rande des Existenzminimums ums Überleben kämpfenden Familien.

Orhan dreht hier und dort – man weiß ja nie, ob man das Material später noch einmal gebrauchen kann. Etwas später werden wir ins Büro des Schulleiters gebeten, in dem heißer, süßer Tee auf uns wartet. Gerne würde ich noch ein kurzes Interview mit ihm machen, doch als eine der Nebentüren sich öffnet, verschlägt es mir den Atem. Orhan und der Schulleiter springen gleichzeitig auf. Mein türkischer Kollege greift nach der Kamera, der Mann mit Turban versucht stolpernd, die Tür so schnell wie möglich wieder zu schließen.

Kalaschnikow AK-47 – Unten aus der DDR, oben aus China – Foto: Ryan Keene

In den wenigen Sekunden, in denen der Blick in den Nebenraum frei ist, ist es deutlich zu sehen: Auf einem großen Teppich sitzen 10 oder 12 Jungen. Alle im Alter von 12 bis vielleicht 16 Jahren. Alle mit verbundenen Augen. Auf ihren Knien liegen Waffen vom Typ AK-47 (Kalaschnikow) und es ist offensichtlich, dass sie, blind, wie sie durch die Tücher vor den Augen sind, das Zerlegen und Zusammensetzen der Waffen trainieren.

 

September 1996 – Von der Koranschule zur Waffenschmiede

Der Krach ist ohrenbetäubend, ich glaube, den Türrahmen zittern zu sehen. Der Schulleiter, sein Turban ist etwas zur Seite verrutscht, steht breitbeinig vor der Tür, die er soeben eigenhändig zugeknallt hat. Sein freundliches Lächeln ist ausradiert, als sei ein riesiges Radiergummi durch sein Gesicht gefahren. Orhan hat es nicht geschafft. Seine schon etwas betagte Kamera braucht immer 20 bis 30 Sekunden „Vorlauf“, bevor er drehen kann. Zu lange in einer Situation wie dieser. Gesehen haben wir alle vier, was da im Nebenzimmer vom Büro des Schuldirektors passiert.

Fassen kann ich es kaum. Da sitzen Kinder und lernen, wie die AK-47, ein Sturmgewehr, das in der Sowjetunion entwickelt wurde, zu bedienen ist. Ist das wirklich ein „Unterrichtsfach“ an der großen Koranschule, hier, kurz vor Peschawar? Und wie wird sich der Schul-Chef jetzt verhalten, wo er weiß, was wir jetzt wissen? Ali reagiert schnell – und anscheinend absolut richtig. Ein paar Sätze aus dem Koran, die er vermutlich bei einem seiner seltenen Besuche in einer Moschee gelernt hat. Ein paar Bewegungen mit den Händen am Kopf, Verbeugungen und dann eine Hand auf dem Herzen.

Lastwagen zwischen Islamabad und Peshawar – Foto: Carol Mitchell

Der Direktor brüllt ein paar Worte. Klingt für mich nicht wie Urdu, die Amtssprache von Pakistan. Eher wie Paschtunisch. Gefühlte zehn Minuten schweigen wir uns an. Ob er mir mein Herzklopfen ansieht? Dann kommt der Tee, den er offensichtlich herbeigebrüllt hat. „Well“, beginnt der Schulleiter seinen Satz und macht dann eine lange Pause. Das, was wir da eben vielleicht gesehen haben, das wäre völlig normal. Es sei eben ein wildes Land hier. Das würden wir schon noch sehen. Und hier müssten eben auch die jungen Schüler schon lernen zu kämpfen. Er sagt nicht „sich zu verteidigen“, er spricht vom Kampf, in den die Kinder wohl ziehen müssten.

Selbst ein Mensch, der frei von jeglicher kognitiver Empathie ist, würde deutlich merken, dass der Turbanträger hinter dem Schreibtisch uns jetzt gerne so schnell wie möglich wieder los wäre. Wie zwei gleiche Pole eines Magneten scheinen der Schulchef und wir drei Journalisten uns plötzlich abzustoßen. Mit einem Lächeln, das wie eingemeißelt auf seinem Gesicht steht, geleitet er uns zum zum Rande des Parkplatzes. Nicht einmal bis zu unserem Auto – obwohl das die Höflichkeit sicher geboten hätte. Kein Abschied. Er dreht sich um und geht, ohne ein Wort des Grußes, ins Schulhaus.

Unseren Fahrer Hanif im Blick, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Es scheint, als hätte ihn niemand ins Haus gebeten, so dass er im Schatten des Autos gewartet hat. Es sind sicher deutlich über 30 Grad und er sieht völlig verschwitzt aus. Ali erzählt ihm von unserem Schulbesuch und Hanif ist kaum erstaunt. Wo denn all die Waffen herkommen würden, will ich von ihm wissen und er zeigt ein breites Grinsen – soweit das mit seinem fast zahnlosen Mund möglich ist.

Die werden hier gemacht, die kann hier jeder kaufen“. Und dann fällt Hanif ein, dass gar nicht weit von hier eine „Waffenfabrik“ ist. Das sind seine Worte. Nach ein paar Kilometern in Richtung Westen, in Richtung Peshawar, biegt er nach rechts auf eine unbefestigte Straße ab. Wir kreuzen die Eisenbahnlinie zwischen Rawalpindi und Peshawar. Langsam, von Schlagloch zu Schlagloch springend, schleichen wir den Feldweg entlang. Nach 15 oder 20 Minuten haben wir einen Fluss erreicht und eine kleine Siedlung am Ufer. Etwas abgelegen ein Haus, mehr so etwas wie eine Hütte mit Wänden und Dach aus Wellblech. Genau hier parkt Hanif unser Auto.

Jammerndes Quietschen eines gequälten Metallbohrers ist das Erste, was ich höre. Eine rhythmisch singende Metallsäge und gedämpfte Männerstimmen. Hanif bedeutet uns, zu warten, Orhan hat die Kamera vorsichtshalber schon eingeschaltet um sofort drehbereit zu sein. Keine Minute vergeht und der Fahrer kommt zurück. „Ihr dürft rein, aber nur ohne Kamera.“ Mist! Aber besser, als gar nicht gucken dürfen. Vielleicht kann man die Waffenmacher ja etwas später noch überreden…

Nach der gleißenden Hitze draußen ist es selbst hier, unter dem Wellblechdach, etwas kühler. Ein einziger, gut überschaubarer Raum. Zehn Meter lang vielleicht, und fünf oder sechs Meter breit. Drei Männer, im traditionellen Shalwar Kameez. Ein helles, mehr als knielanges Hemd, darunter eine weite, flattrige Hose. Die elektrischen Maschinen sehen aus, als wären sie in der Zeit zwischen den Weltkriegen gebaut worden. An einer der Bohrmaschinen prangt der Markenname „Fein“. Eine deutsche Traditionsmarke für Elektrowerkzeuge, mit langer Geschichte.

An der gegenüberliegenden Wand liegen fertige Waffen. Zehn oder 15 Sturmgewehre vom Typ Kalaschnikow AK-47 und drei Panzerbüchsen, die weltweit unter der Bezeichnung RPG-7 bekannt sind. Ein kleiner, dicker Herr mit einem schwarzen Turban begrüßt uns freundlich. Gebrochenes Englisch, aber gut zu verstehen. „Ja, eine ganz normale Waffenfabrik ist das hier, so wie man sie überall im Westen Pakistans findet.“ Und er mache nur die zwei Waffentypen, die wir hier sehen könnten. „Mehr braucht man hier auch nicht.“

Die AK-47 ist der Klassiker unter den Kriegswaffen. Seit 1947 fast unverändert gebaut, weiß niemand genau, wie viele dieser Waffen im Umlauf sind. Fachleute schätzen, dass zwischen 80 und 100 Millionen AK-47 die Fabriken verlassen haben. Mindestens 60 Staaten rüsten ihre Armeen mit dieser Waffe aus, gebaut wird sie in Dutzenden von Ländern überall auf dem Globus. Besonders beliebt, so hat mir vor einiger Zeit ein Söldner in Somalia erzählt, sind die AK-47, die in der ehemaligen DDR produziert wurden. Die seien zwar teurer als andere aber auch wesentlich präziser.

Was kostet denn so ein Ding?“ will ich vom kleinen Turbanträger wissen. Der schielt zuerst zu Hanif, dann zurück zu mir. Druckst etwas herum, bis unser Fahrer nickt. (Was spielt Hanif hier bloß für eine Rolle?) Ja, also wenn ich nur eine kaufen würde, dann müsste ich schon so rund 200 Dollar hinlegen, erklärt er mir. Wenn wir allerdings mehrere nähmen, dann wäre da ein ordentlicher Rabatt drin. Will der uns hier etwas verkaufen?

Mudschaheddin mit Enfield-Gewehren (links und rechts, ca. 1950) und einer RPG-7 (mitte, ca.1965) nahe der pakistanisch/afghanischen Grenze – Foto: Erwin Franzen

Plötzlich drückt er mir eine der nagelneuen AK-47 in die Hand. „Noch ist sie nicht eingeschossen, kannst ja mal probieren.“ Nee, ich will das nicht! Wenn das Ding nach hinten losgeht. Und überhaupt. Oder will ich doch? Vor Jahren, im irakischen Teil Kurdistans, habe ich schon mal mit einer Kalaschnikow geschossen. Der spitze, scharfe Knall und der unerwartet heftige Rückschlag ist mir gut in Erinnerung. Zum Erstaunen der PKK-Rebellen, über die wir damals eine Reportage gemacht hatten, traf ich sogar die Blechdose, die sie als Ziel aufgestellt hatten. Klar, ich war ziemlich stolz.

Na ja, ich mach’s dann. Für einen Journalisten eigentlich ein Unding. Jetzt bin ich aber gerade die Privatperson, die versucht, Pakistan kennen zu lernen. Drüben, am anderen Ufer des Flusses liegen die Überreste eines verrotteten Ruderbootes. Der Turban bestimmt, dass das mein Ziel sein soll. Vielleicht 300 Meter bis dorthin – das sollte gehen. Aus dem Stand und ohne aufzulegen. Dann kracht es ohrenbetäubend laut und ich bin fast taub...


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 14. Mai 2019 unter dem Titel „September 1996 – Heimat der Taliban“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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