September 1996 – Heimat der Taliban Ein flaues Gefühl im Magen, singende Taubheit im Ohr und eine vor Stolz geschwellte Brust. Ich habe getroffen. Die „in Heimarbeit“ entstandene Kalaschnikow schießt offensichtlich geradeaus und sogar nach vorne! Und dann kommt der Waffenfabrikant tatsächlich mit einem Angebot. Er würde uns drei dieser Waffen verkaufen. „I give you
September 1996 – Heimat der Taliban
Ein flaues Gefühl im Magen, singende Taubheit im Ohr und eine vor Stolz geschwellte Brust. Ich habe getroffen. Die „in Heimarbeit“ entstandene Kalaschnikow schießt offensichtlich geradeaus und sogar nach vorne!
Und dann kommt der Waffenfabrikant tatsächlich mit einem Angebot. Er würde uns drei dieser Waffen verkaufen. „I give you a very special price.“ Mit Discount also. Für die drei AK-47, die wir uns sogar selbst aussuchen dürften, will er 400 Dollar haben. Etwas erschrocken sehe ich ihn an. „O.k. Because you are very good friend I give you three AK for only 300. Last price.“ Spinnt der Typ? Nicht nur, dass er wissen sollte, dass Journalisten niemals bewaffnet sind; glaubt der denn auch ernsthaft, dass wir morgen, in dem Flugzeug nach Kabul, so einfach Waffen mitnehmen dürfen? Das frage ich ihn. „Oh, my friend, no problem. You give me half price today, I send guns to Kabul. You pay half price when you get guns in Kabul.“ Waffenschmuggel nach Afghanistan hinein scheint also noch immer ganz einfach zu sein. Hanif, der ja ganz offensichtlich an diesem Geschäft mitverdienen würde, unterstützt den kleinen Turbanträger nach Kräften. „Ohne Waffen seid ihr eures Lebens nicht sicher in Kabul!“ brummt er mit Grabesstimme. Als wären wir mit Waffen dort sicherer…
Wie kommen wir aus diesem Ding wieder raus, ohne Groll zu hinterlassen. Ohne böse Worte und mit einem weiterhin zuverlässigen Fahrer?
Ich versuche vorsichtig, etwas von Journalistenethos zu erklären, dass wir mit solchen Waffen ja gar nicht umgehen können und dass wir in Kabul sicher schrecklich auffallen würden als Europäer mit Gewehren. Irgendwie scheint es zu gelingen. Turban und Fahrer knirschen mit den Zähnen, wir versprechen hoch und heilig, die Fabrik an andere Ausländer weiter zu empfehlen.
Hanif ist etwas brummig, als wir die letzten Kilometer nach Peshawar zurücklegen. Rechts und links der Straße sind immer wieder große Flüchtlingslager zu sehen. Afghanen, die vor den sowjetischen Truppen und vor den Kriegswirren in ihrer Heimat geflohen sind. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, doch nach Angaben der pakistanischen Regierung soll das Land mehr als 3 Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben. Reguläre Schulen gibt es in den Lagern nicht, sagt Hanif. „Aber Hunderte von Koranschulen sorgen dafür, dass die Kinder der Geflohenen wenigstens Rechnen und Schreiben lernen.“ Gerne würde ich auf dem Rückweg eines dieser Lager besuchen.
Eine Nacht noch hier in Peshawar, dann geht’s ab nach Kabul. Schon bei einem Reisebüro in Islamabad hatten wir drei Zimmer im Hotel Pearl Continental reserviert. Angeblich das beste Haus in Peshawar, ganz neu, superschick und schweineteuer.
Wir fahren durch die Vororte der Stadt. Noch zu Hause hatte ich im Reiseführer gelesen, dass Peshawar eine der ältesten Städte der Welt ist. Und rund 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung war dieses hier, mit damals fast 120.000 Einwohnern, die siebtgrößte Ansiedlung der Erde. Jetzt, mit fast einer Million Menschen ist Peshawar die wuselige Metropole West-Pakistans, ein Tor nach Afghanistan und China, Endstation der Eisenbahn – und wichtiger Knotenpunkt der islamistischen Taliban.
Eigentlich bedeutet das Wort „Talib“ so viel wie „Schüler“ oder „Suchender“. Seit fast zwei Jahren wird es auch für die islamischen Gotteskrieger verwendet, die gerade jetzt versuchen, die Macht in Afghanistan zu übernehmen.
Entstanden ist die militante Organisation zum Einen in Dutzenden von Koranschulen, die es hier, im Westen Pakistans, für Flüchtlinge aus Afghanistan gibt. Zum Anderen auch aus den lose zusammenhaltenden Mudschaheddin, die zwischen 1979 und 1989, mit massiver Unterstützung der USA, einen Guerillakrieg gegen die sowjetischen Besatzungstruppen geführt haben. Die meisten der tonnenweise von den Amerikanern gelieferten Waffen sind jetzt in der Hand der „Koranschüler“.
1994 traten die Taliban im Süden Afghanistans erstmals in Erscheinung. Im Herbst des Jahres tauchten sie dann in militärischer Formation auf und brachten im November die Stadt Kandahar unter ihre Kontrolle. Bis zum Ende des Jahres kontrollierten sie die wichtige Provinz Helmand mit der Hauptstadt Lashkar Gah, an der Hauptstraße zwischen Herat und Kabul. Zudem gelang es den Taliban weitere Provinzen im Süden und Westen des Landes zu erobern, die nicht unter Kontrolle der Zentralregierung standen. Kabul, unser Ziel, wird noch nicht von ihnen beherrscht.
September 1996 – Eine Grenze, die keine ist
Schon ganz früh am Morgen weckt uns der Ruf des Muezzins von dem nahe gelegenen Minarett. Es fällt extrem schwer, das Bett im Luxushotel hier in Peshawar zu verlassen. Um acht Uhr sollen wir abreisebereit im Haus des ICRC sein. Diese vier Buchstaben stehen für „International Red Cross and Red Crescent Movement”, die “Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung”. Vorher noch schnell unten im Restaurant frühstücken, dann geht es los.
Hanif, unser Fahrer setzt uns beim Roten Kreuz ab. Für ihn war es das, er fährt jetzt wieder nach Hause, nach Islamabad, und hofft auf den nächsten Job oder auf unseren Anruf. Mit uns warten noch ungefähr zehn weitere Passagiere auf den Transport zum Flughafen und den Flug nach Kabul. Pässe werden kopiert, Tickets ausgestellt, Gepäck gewogen. Nach einer knappen Stunde kommt dann ein Lastwagen mit dem Symbol des Roten Halbmond – dem Äquivalent zum Roten Kreuz in islamischen Ländern. Gepäck wird verladen, auch die Fluggäste finden auf der Ladefläche Platz. Zum Flughafen sind es nur ein paar Minuten – er liegt am westlichen Rande des Stadtzentrums.
Pass- und Zollkontrolle dauert nur Minuten. Mit den pakistanischen Ausreisestempeln im Pass läuft die Gruppe auf das Flugfeld, wo ein blendend weißes Flugzeug mit dem Roten Kreuz und dem Roten Halbmond am Leitwerk wartet. Es ist eine Beechcraft 1900, ein Kurzstreckenflugzeug für bis zu 19 Personen. Luftlinie sind es nur gut 200 Kilometer bis nach Kabul, noch kurz vor der Landung müssen allerdings bis zu 3.000 Meter hohe Berge überflogen werden. Gepäck wird verladen und wir paar Passagiere sind schnell in der Maschine verschwunden. Einer der Piloten gibt Sicherheitsinstruktionen und Minuten später sind wir startbereit. Geplante Flugzeit: knapp 30 Minuten.
Die Landschaft unter uns ist wild und zerklüftet. Unbewachsenes Hochgebirge wechselt sich mit grünen Tälern ab. Nach rund fünf Minuten haben wir den Khyber-Pass und damit die Grenzkontrollstelle zwischen Pakistan und Afghanistan überquert. Unter uns liegt eine von Menschenhand gezogene Grenze, die in ihrer Form unsinnig, überflüssig und lebensgefährlich ist. Eine Grenze, die sich quer und ohne jegliche ethnische Rücksicht durch uralte Stammesgebiete zieht. Es ist die “Durand Line”, eine Demarkationslinie, die von Afghanistan bis heute nicht anerkannt wird.
Ende des 19. Jahrhunderts bekam London es mit der Angst zu tun. Die völlig offene Grenze zwischen Britsch-Indien im Osten und dem Emirat Afghanistan im Westen, so befürchtete man im Vereinigten Königreich, könnte Horden aus dem zaristischen Russland dazu verführen, in die britische Kronkolonie einzufallen. Mr. Henry Mortimer Durand, seines Zeichens Außenminister von Britsch-Indien, erteilte den Befehl, mitten im Gebirge des Hindukusch eine Grenze zu ziehen. Auf Anweisung sollte diese Grenze nicht nur seit 2.500 Jahren bewohnte paschtunische Stammesgebiete trennen, sondern an etlichen Stellen auch mitten durch Dörfer und Siedlungen geführt werden.
Nur ein Teil der insgesamt 2.250 Kilometer langen Durand-Line ist mit Grenzpfählen markiert. An vielen Stellen ist der Verlauf nur sehr ungenau festgelegt. Die Vermessung der Demarkationslinie nahm etliche Jahre in Anspruch und ihr Verlauf wurde teilweise mit primitiven Mitteln und ohne fachliche Kenntnisse beschrieben. Zuerst wurde im so genannten `“Pamir Agreement“ die Nordgrenze Afghanistans festgelegt. Eine Britisch-Russische Kommission beschrieb die Grenze wie folgt: Ungefähr 23 Meilen südlich von dem in der Sariko-Bergkette stehendem Pfosten XII beginnt die neue Grenze. Dann verläuft sie in Richtung Süden, über den Wakhjir-Pass.

September 1996 – Noch dürfen Frauen auch ohne männliche Begleitung das Haus verlassen – Foto (aus Video): Dieter Herrmann
Dort beginnt dann die eigentliche Durand-Line, deren Dokumentation den Eindruck macht, als hätten die britischen Vermesser, weniger mit Instrumenten als mehr nach Augenmaß gearbeitet. Kontrolliert werden konnte diese Grenze nie. Weder von den Briten noch später von Pakistan oder Afghanistan. Von afghanischer Seite wurde die Durand-Line wiederholt als die „verhasste Grenze, die wie eine Mauer zwischen Brüdern steht“ bezeichnet.
Kabul liegt vor uns. Links aus dem Flugzeugfenster ist das berüchtigte Pul-e-Charkhi – Gefängnis zu sehen. Es ist aufgebaut wie die Speichen eines Rades, ist die größte Haftanstalt in Afghanistan und zählt zu den größten der Welt. Wie viele Gefangene dort untergebracht wurden und werden, ist nie bekannt geworden. Eine Zahl, die man genau kennt: zwischen April 1978 und der sowjetischen Invasion im Dezember 1979 ließ die kommunistische Regierung Afghanistans mehr als 27.000 politische Gefangene in Pul-e-Charkhi exekutieren.
Gelandet. Das Flughafengebäude sieht aus wie eine Ruine und etwas später sehen wir, dass es tatsächlich eine ist. In das Dach müssen etliche Granaten eingeschlagen sein, es gibt keine Glasscheiben mehr, die Gepäckbänder sind aus der Verankerung gerissen, auf den Rollbahnen gibt es Bombenkrater. Wohin man schaut, es liegen Flugzeugwracks überall entlang der Landebahnen und vor den zerstörten Hangars. Fast alles russische Flugzeuge, Militärmaschinen ebenso wie Passagierflugzeuge. Ali, Orhan und ich tragen unser Gepäck selbst. Eine Zollkontrolle gibt es nicht, dafür werden unsere Pässe gründlich überprüft. Über Trümmer hinweg erreichen wir den Vorplatz des Flughafens.
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 28. Mai 2019 unter dem Titel „September 1996 – Kabul in Schutt und Asche“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]