September 1996 – Kabul in Schutt und Asche Der Wegweiser, der mich schon vor 23 Jahren in Afghanistan ins Gefängnis gebracht hat, steht noch immer hier. Etwas rostiger zwar, etwas mehr abgeblätterter Lack aber noch immer zeigt er uns, dass es nach Berlin 4.792, nach Istanbul 3.577, nach Moskau 3.368 und nach New York 10.851
September 1996 – Kabul in Schutt und Asche
Der Wegweiser, der mich schon vor 23 Jahren in Afghanistan ins Gefängnis gebracht hat, steht noch immer hier. Etwas rostiger zwar, etwas mehr abgeblätterter Lack aber noch immer zeigt er uns, dass es nach Berlin 4.792, nach Istanbul 3.577, nach Moskau 3.368 und nach New York 10.851 Kilometer sind. Moskau liegt wohl noch immer am nächsten… Alles andere ist nicht wiederzuerkennen. Das Terminalgebäude hinter mir hat keine einzige Glasscheibe mehr, die Fassade ist übersät mit Löchern von Einschüssen und Granatsplittern, der Vorplatz kann nur benutzt werden, wenn man im Slalom um die Krater läuft oder fährt.
Gleich rechts, beim Blick in Richtung Stadt, liegen Flugzeugwracks so weit ich sehen kann. Ein Meer von weiß und blau. Unschwer zu erkennen ist, dass das fast die gesamte Flotte der einst stolzen ARIANA sein muss. Die staatliche Fluggesellschaft wurde schon 1955 gegründet. Zwei Jahre später stieg die weltweit bekannte PanAm (Pan American World Airways), die nun auch schon seit fünf Jahren Geschichte ist, ein und half bei der Beschaffung moderner Flugzeuge. Zu ihrer Blütezeit flog die ARIANA unter anderem zu Zielen in China, Deutschland, Indien, Iran, Pakistan, Russland und der Türkei.
Was ich jetzt sehe, ist Schrott. Ein paar Boeings, ein paar Antonows, einige Tupolews. Alle völlig zerstört. Zerfetztes Metall, zerschlagene Scheiben, aufgerissene Tragflächen und wüst herumliegende Flugzeugsitze. Für Luftfahrt-Enthusiasten vermutlich ein Abenteuerspielplatz – für die ARIANA und die zivile Luftfahrt in Afghanistan womöglich das Todesurteil.
Knallgelbe Taxis stehen auf dem Vorplatz. Kein einziger Mercedes mehr, kein Volvo, kein Opel und auch kein Ford. Selbst VW-Käfer konnte man hier früher als Taxis sehen. Jetzt warten hier Wolgas, Ladas und ein oder zwei Moskwitsch auf Kunden. Nach dem Motto „Size matters“ marschieren wir auf einen der großen Wolgas zu. Träge und wohl etwas gelangweilt wälzt sich der Fahrer aus seinem Sitz und öffnet den Kofferraum. Von außen sieht das Auto riesig aus – wir haben Schwierigkeiten, unser Gepäck hinten zu verstauen. Als Ali, Orhan und ich dann im Auto sitzen, können wir unser Glück kaum fassen: der Fahrer ist Turkmene. Rund eine halbe Million Angehörige dieses Volkes leben im Nordwesten Afghanistans. Offiziell ist Turkmenisch eine eigenen Sprache, tatsächlich ist es dem Türkischen so ähnlich, dass es für uns jetzt keine Verständigungsprobleme gibt. Mit dem Schreiben dürfte es etwas schwieriger sein. Die in Afghanistan lebenden Turkmenen benutzen das arabische Alphabet.
Unser Ziel ist die türkische Botschaft im Zentrum von Kabul. Ali hatte schon in Ankara mit dem Außenministerium Kontakt aufgenommen und unser Kommen angekündigt. Gerne wolle man uns unterstützen, war die Nachricht, die er vom Ministerium mitgebracht hat.
Vom Flughafen zur Botschaft in der Wazir Akhbar Khan Straße sind es nur fünf oder sechs Kilometer und eigentlich geht es immer geradeaus. Wenn die Zeiten normal wären, hätten wir nach 10 bis 15 Minuten unser Ziel erreicht. Sie sind aber alles andere als normal. Kemal, so heißt der Taxifahrer, kann vielfach nur Schritttempo fahren. Er kurvt um Bombenkrater und Autowracks. Steinhaufen liegen auf der Straße, an einem verlassenen Kontrollposten sind Sandsäcke aufgeschichtet und Dutzende von zerstörten sowjetischen Militärfahrzeugen blockieren an vielen Stellen den Weg. Ich sehe mich ein wenig um und wo ich auch hinschaue, sehe ich defekte oder zerstörte Panzer vom Typ BTR-60. Jeder, der in der Armee der DDR seinen Dienst abgeleistet hat, kennt diesen vierachsigen Schützenpanzer und kennt auch seine größte Schwäche. Es ist der Treibstoffverbrauch. Der Panzer wird von zwei Benzinmotoren mit jeweils 90 PS angetrieben. Insgesamt also lächerliche 180 PS bei einem Fahrzeuggewicht von über 10 Tonnen. Der Treibstoffverbrauch, so haben mir ehemalige NVA-Soldaten erzählt, sollte eigentlich um 60 Liter pro 100 Kilometer liegen. Tatsächlich musste aber mit rund einem Liter Benzin pro Kilometer kalkuliert werden. Kemal, unser Fahrer, erzählt, dass die Sowjetische Armee oft alle verfügbaren Benzinvorräte beschlagnahmt hat, so dass für den Bedarf der afghanischen Bevölkerung nichts mehr übrig blieb.
Ein bisschen schildert er uns auch das Leben in Kabul heute, im September 1996. Was die Zahl der Einwohner angeht, so ist die Stadt klein geworden. Hunderttausende sind nach Pakistan und in den Iran geflüchtet. Seitdem die sowjetischen Truppen im Jahr 1989 Hals über Kopf das Land verlassen haben, bekriegen sich gerade hier in der Hauptstadt die verschiedenen politischen Fraktionen. Geschossen wird immer irgendwo und weite Teile der Stadt sind vermint. Derzeit kämpfen die von außen vorrückenden Taliban gegen die Milizen von Ahmed Shah Masoud, die Kabul noch mit Mühe halten können. „Jede Nacht“, so erzählt Kemal, „wird Kabul jetzt bombardiert. Von allen Seiten greifen die Taliban mit Artillerie und Raketen an.“ Immer wieder brechen Wohnhäuser zusammen, flüchten Menschen in Panik in nahe gelegene Moscheen, die dann manchmal auch zerstört werden. Am Tage könne man sich relativ sicher bewegen. Nachts sei das extrem gefährlich. Und dann sagt Kemal noch: „ Hoffentlich haben die Taliban die Stadt bald eingenommen. Dann ist endlich Frieden!“
Nach etwas mehr als einer halben Stunde kommen wir vor der türkischen Botschaft an. Der Fahnenmast steht noch, eine Flagge weht nicht mehr. Vielleicht ist die Botschaft längst verlassen. Ein riesiges Eisentor, ein paar Dutzend Einschüsse und die Mondsichel mit Stern, die Symbole der türkischen Flagge. Ein Klingelknopf ganz an der Seite, in die Mauer eingelassen. Ali drückt lang und nachhaltig. Nichts ist zu hören, nichts rührt sich. Mist! .
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 11. Juni 2019 unter dem Titel „September 1996 – Eingesperrt im Bunker“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]