September 1996 – Eingesperrt im Bunker Ali gibt nicht auf. Nach ein paar Faustattacken auf das türkische Eisentor saust krachend ein kleines, in das Tor eingelassenes Schiebefenster zur Seite. Ein zerknittertes Gesicht, nach oben von einem schlohweißen Schopf abgeschlossen, kommt durch das Fenster geschoben. Ali singt dem Mann ein freundliches „Merhaba“ entgegen und schon wird
September 1996 – Eingesperrt im Bunker
Ali gibt nicht auf. Nach ein paar Faustattacken auf das türkische Eisentor saust krachend ein kleines, in das Tor eingelassenes Schiebefenster zur Seite. Ein zerknittertes Gesicht, nach oben von einem schlohweißen Schopf abgeschlossen, kommt durch das Fenster geschoben. Ali singt dem Mann ein freundliches „Merhaba“ entgegen und schon wird das Gesicht freundlicher. „İyi günler, biz Türk Gazetteciler“, sagt Ali. So so, wir sind also türkische Journalisten. Der Satz wirkt aber wie ein geheimer Schlüssel. Das Tor geht auf, Kemal, der Taxifahrer, darf sogar mit dem alten Wolga hineinfahren.
Der alte Mann mit den weißen Haaren ist Turkmene, heißt Necmettin und ist so etwas wie der Hausmeister, der Wächter und vielleicht sogar der Nachlassverwalter in einer Person. Außer ihm lebt nur noch eine weitere Person im riesigen Botschaftsgebäude. Bis auf den Kanzler der Botschaft haben alle anderen Diplomaten das Land schon verlassen. Die Angst vor den vorrückenden Milizen der Taliban ist zu groß.
Necmettin führt uns in das Büro des Kanzlers. Völlig verloren hockt der Mann hinter einem riesigen Schreibtisch in einem saalartigen Amtszimmer. Dass Ali und Orhan seine Landsleute sind, ist ihm sofort klar. Aber wer ich den sei, will er wissen. Ich stelle mich vor, sage, dass ich deutscher Journalist bin, aber in der Türkei lebe. Der Diplomat legt seine Stirn in eindrucksvolle Falten: „Ich weiß, dass sie hier ein paar Nächte schlafen möchten. Das ist für die türkischen Kollegen auch kein Problem, einen Ausländer darf ich hier jedoch nicht beherbergen.“
Das allerdings ist dramatisch. Ich kenne keine anderen sicheren Ort zum Übernachten. Die Deutsche Botschaft ist seit langem geschlossen, Hotels extrem unsicher und größtenteils zerbombt. Der Deutsche Club, mit Tennisplatz, Pool und Kegelbahn, einst Anlaufstelle für alle Deutschen in Kabul, ist längst Ziel von Artilleriegeschossen und Raketen geworden.
Mit ausgesuchter Höflichkeit lege ich dem Botschafts-Kanzler meinen amtlichen türkischen Presseausweis auf den Tisch. Immerhin ist die kleine Karte vom Büro seines Ministerpräsidenten ausgestellt. Und das ändert tatsächlich plötzlich alles. Breit lächelnd lädt er mich ein, die Botschaft als mein Zuhause zu betrachten. Er würde zwar morgen nach Ankara reisen, ich und mein Kamerateam mögen aber hier bleiben, so lange wir es für nötig halten. Er meint es ernst. Audienz beendet.
Ali spricht draußen kurz mit dem Taxifahrer, bezahlt ihn und bittet ihn, uns morgen früh wieder abzuholen. Vielleicht, so sagt er ihm, kann er ja für ein paar Tage oder Wochen für uns arbeiten. Necmettin, der Hausmeister, kommt mit einer ziemlich speziellen Nachricht: „Auf keinen Fall könnt ihr im Botschaftsgebäude schlafen. Sowieso viel zu gefährlich – und wenn die Taliban erst mitbekommen, dass wir Journalisten beherbergen, dann werden wir erst recht zum Ziel.“ Mitten im Garten steht ein kleines Lagerhaus, dort geht er hinein, wir folgen. Durch eine massive Stahltür, dann mehrere steile Treppen hinunter. Wir sind im Bunker der Botschaft. Drei Meter Erdreich und Beton über uns, sagt Necmettin.
Unten drin sechs Etagenbetten, zwölf Matratzen also insgesamt. Es gibt eine Toilette und ein Waschbecken und an einer langen Wand sind bis zur Decke deutsche EPA – Kartons gestapelt. EPA, jeder, der mal bei der Bundeswehr war, weiß es, ist die so genannte „Einmannpackung“. Ein Verpflegungspaket, aus dem sich ein Soldat mindestens einen Tag lang ernähren kann. Die Rationen sind alle schon mindestens fünf Jahre alt, doch mit etwas Glück sind die Mahlzeiten in den kleinen Kartons auch 10 Jahre haltbar. Alles auf Deutsch beschriftet natürlich – und ich nehme mir vor, meinen Kollegen nicht zu sagen, dass auch Schweinefleisch in den Rationen enthalten ist. Wichtig für mich, um auch aus dem Bunker arbeiten zu können, ist die kleine „Dokumentenschleuse“. Unten bei uns, tief in der Erde, eine Blechtür in der Wand, dahinter eine Art Fahrstuhl, in dem nicht viel mehr als ein kleiner Reisekoffer Platz hätte. Oben, fast fünf Meter höher, eine Eisenklappe, massiv gebaut, so dass sie auch mögliche Explosionen aushält. Für mich die Verbindung nach Deutschland. Durch den Schacht führe ich das Antennenkabel meines Satellitentelefons. Unten also das aktenkoffergroße Telefon, versorgt vom Strom aus der Steckdose, oben die Antenne, die über die Inmarsat-Satelliten die Verbindung zur Außenwelt herstellt. Von hier aus kann ich jeden beliebigen Telefonanschluss auf der Erde anrufen und ebenso auch angerufen werden. Solange es Strom gibt.
Necmettin warnt uns: „Geht Nachts niemals aus dem Bunker raus! Die Taliban schießen seit Tagen immer nach Einbruch der Dunkelheit von Norden aus in die Stadt. Hier ganz in der Nähe ist eine Artilleriestellung der Truppen, die Kabul gegen die Islamisten verteidigen.“ Ganz klar, dass die Taliban versuchen, die Artilleriestellungen zu zerstören. Präzisionswaffen werden sie kaum haben…
Dann sagt Necmettin uns noch, dass er in wenigen Minuten den Strom abschalten wird. Das öffentliche Stromnetz ist schon vor langer Zeit zusammengebrochen. Wer Elektrizität haben will, braucht einen eigenen Generator. Der Stromerzeuger hier in der Botschaft wird immer nur Vormittags und Abends für ein paar Stunden eingeschaltet. Diesel ist knapp und teuer. Für das Satellitentelefon müssen wir also eine andere Lösung finden.
Nur ein paar Stunden später erschüttern die ersten Detonationen das Gebiet um die Botschaft herum. Sehr schnell lernen wir am Geräusch zwischen „ankommender“ und „abgehender“ Artillerie zu unterscheiden. Die ganze Situation hier ist grauenvoll für die Bevölkerung. Wir sind bisher kaum gefährdet – trotzdem ist mir das abgehende Feuer wesentlich sympathischer. Bis vier Uhr am Morgen kracht es, nur unterbrochen von kurzen Feuerpausen. Wir wälzen uns in unseren Betten, können nicht schlafen. Klar haben wir auch Angst. Wer weiß, ob der Bunker wirklich einen direkten Treffer aushält. Orhan, der Kameramann, hat eine solche Situation noch nie erlebt. Bei jeder Explosion zuckt er zusammen und hält sich am Rahmen seines Bettes fest. Hoffentlich hält er durch, denke ich mir. Für Ali dürfte das Kriegsgeschehen draußen nicht neu sein. Er war von 1970 bis zum Ende des Krieges und bis zur Flucht der Amerikaner im Jahr 1975 als Kameramann in Vietnam.
Irgendwann am Morgen werden wir von Necmettin geweckt. Unser Fahrer sei da und wann wir denn endlich kämen? Es ist gerade neun Uhr, ich hätte gut noch ein paar Stunden schlafen können. Ungern erinnere ich mich daran, dass wir hier sind, um zu arbeiten. Vor der Arbeit muss gefrühstückt werden. Draußen ist es ruhig, als wäre die ganze Nacht über nichts gewesen. Dass noch immer der Geruch nach Explosivstoffen in der Luft hängt, bilde ich mir vielleicht nur ein. Kemal fährt uns in eine Art Café. Es duftet wunderbar nach frisch gebackenem Brot und der Fahrer übersetzt dem Wirt, dass wir gern Frühstücken würden. Nach kaum zwei Minuten steht der grüne Tee auf dem Tisch. Wir wollen die Wartezeit auf das Frühstück damit überbrücken, für die nächsten Tage einen Plan zu machen. Drehen in Kabul wäre wichtig, ein paar Interviews mit Geschäftsleuten und Menschen aus der Bevölkerung und sehr gerne würden wir ein Stück über die Minensucher machen, die fast überall in der Stadt arbeiten. Außerdem müssten wir ein paar Lebensmittel einkaufen, um den Türken nachts nicht die Notrationen wegzufuttern. Zudem ein paar Flaschen Getränke – es scheint mir als könne Orhan ohne Cola nicht überleben. Kemal bietet sich an, alles zu organisieren, schärft uns aber ein, nicht zu auffällig zu drehen, das wäre das Letzte, was die Taliban wollen – und ihre Spione wären schon überall.
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 25. Juni 2019 unter dem Titel „September 1996 – September 1996 – Masouds Truppen müssen fliehen, wir bleiben„. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]