September 1996 – Ein Abend mit einer afghanischen Studentin Zumindest vorerst haben die Taliban also ihren Krieg gewonnen. Ab sofort sind wir Besucher in einem Staat mit dem Namen „Islamisches Emirat Afghanistan“. Sehr schnell stellen wir fest, dass das Leben hier in der Hauptstadt und vermutlich in vielen Regionen Afghanistans sich von einem Tag auf

September 1996 – Ein Abend mit einer afghanischen Studentin

Zumindest vorerst haben die Taliban also ihren Krieg gewonnen. Ab sofort sind wir Besucher in einem Staat mit dem Namen „Islamisches Emirat Afghanistan“. Sehr schnell stellen wir fest, dass das Leben hier in der Hauptstadt und vermutlich in vielen Regionen Afghanistans sich von einem Tag auf den anderen ändert. Islamische Gesetze – oder das, was die Taliban dafür halten, werden eingeführt und durchgesetzt.

Diese neuen, für alle verbindlichen Regeln werden durch Plakate bekannt gemacht, in Moscheen gepredigt und über die Hörfunksender von RTA (Radio Television Afghanistan) verbreitet. Sicher gibt es viele Menschen hier in Kabul, die diese neuen Gesetze begrüßen – vielleicht auch nur, weil sie sich davon friedliche Zeiten versprechen.

Die wichtigsten Bestimmungen lauten:

  • Personen weiblichen Geschlechts ist es verboten, außerhalb des eigenen Hauses zu arbeiten. Ausgenommen davon sind Krankenschwestern in den Frauenabteilungen der Krankenhäuser.
  • Schulen für Mädchen werden mit sofortiger Wirkung geschlossen. Personen weiblichen Geschlechts ist es verboten, zur Schule/Universität zu gehen.
  • Männern ist es verboten, sich den Bart zu rasieren.
  • Frauen haben in der Öffentlichkeit eine Burka zu tragen.
  • Frauen ist es nicht erlaubt, ohne männliche Begleitung das Haus zu verlassen. Die Begleitung hat durch Vater, Ehemann oder Bruder zu erfolgen.
  • Fernsehen, Kino und Theateraufführungen sind nicht erlaubt. Entsprechende Einrichtungen sind zu zerstören.
  • Der Besitz von Fernseh- und Videogeräten ist strafbar.
  • Der Besitz von Kassettenrekordern und Musikkassetten ist strafbar.
  • Das Hören von Musik ist nur zulässig, wenn es sich um religiöse Musik handelt.
  • Das Steigen lassen von Drachen ist bei Strafe für jedermann verboten.
  • Jegliche Form von Spiel oder Sport in der Öffentlichkeit ist nicht erlaubt.
  • Die Abbildung des menschlichen Körpers in Filmen, auf Fotos oder Zeichnungen ist strafbar.
  • Das Versäumen der vorgeschriebenen Gebetszeiten wird bestraft.
  • Ab sofort gilt in ganz Afghanistan das Gesetz der Scharia.

Ich hoffe und denke, dass sich diese „Gesetze“ nicht durchsetzen lassen und glaube, dass viele Afghanen Widerstand leisten werden. Doch schon am ersten Tag nach Erlass der Dekrete werde ich eines Besseren belehrt.

Straßenszene in Kabul genau einen Tag vor Machtübernahme durch die Taliban

Wir sind unterwegs mit Kemal und seinem Taxi. Ganz in der Nähe der großen Moschee im Stadtteil Shar-E-Naw ist ein Menschenauflauf. Im Abstand von wenigen Sekunden sind schrille Schreie zu hören. Natürlich wollen wir wissen, was da passiert – und diesmal bin ich ausnahmsweise sehr froh, dass Orhan die Kamera im Auto lässt. Inmitten des Menschenkessels liegt bäuchlings ein Mann auf der Motorhaube eines Autos. Zwei andere, mit langen schwarzen Gewändern und schwarzen Turbanen halten ihn fest, während ein dritter mit einer elastischen Rute auf den Rücken des Liegenden peitscht. Die Kleidung ist schon zerfetzt, die Haut darunter aufgeplatzt. Möglichst unauffällig fragt Kemal, was hier gerade passiert. Zurück im Auto berichtet er: „Der Mann, der da gerade von der neuen Polizei bestraft wird, ist Barbier und hat ein Friseurgeschäft. Dort sind heute Kunden rasiert worden – und das ist ja jetzt verboten. An Ort und Stelle ist er zu 20 Stockschlägen verurteilt worden.“ Wenn die neue Taliban-Regierung ihre Regeln so durchzieht, dann werden sie jeglichen Widerstand schon im Keim ersticken, fürchte ich.

Mir ist überaus mulmig, wenn ich daran denke, dass es ja unsere Aufgabe ist, über solche Aktionen zu berichten. Die Frage ist, ob das ohne Gefahr für Orhan, Ali, unseren Fahrer und mich überhaupt möglich ist. Wie werden die neuen Herrscher sich verhalten, wenn sie uns mit der Kamera sehen?

Auf dem Rückweg zur türkischen Botschaft dann noch eine grausame Szene. In der Nähe des Präsidentenpalastes ist ein Verkehrsknotenpunkt, der von einem auf einem Betonsockel stehenden Häuschen überragt wird, das von Polizisten zur Beobachtung des Verkehrs genutzt wird. Mit einem kurzen Strick um den Hals baumelt eine männliche Leiche herab, drei oder vier Meter über der Straße. Es ist Mohammed Najibullah einer der Präsidenten Afghanistans zur Zeit der sowjetischen Besatzung. Wir bitten Kemal, unseren Fahrer, mehr über den Tod Najibullahs in Erfahrung zu bringen. Am späten Nachmittag kommt er mit einem vollgeschriebenen Notizzettel zurück. Nadjib, wie der Ex-Präsident von der Bevölkerung genannt wurde, hatte schon vor langer Zeit Unterschlupf in einem Gebäude der Vereinten Nationen gesucht und gefunden. Als die Taliban-Truppen näher an Kabul heranrückten, wollte sein alter Erzfeind Ahmed Shah Masoud ihm helfen, das Land zu verlassen. Najib lehnte ab, auf die Fairness der islamischen Taliban vertrauend. Am 27. September holten die ihn mit Gewalt aus dem UN-Gebäude, kastrierten ihn, schleiften ihn hinter einem Fahrzeug zu Tode und hängten ihn an das Verkehrs-Überwachungshäuschen.

Für ein paar Tage drehen wir jegliche Ereignisse nur aus größerer Entfernung. Zudem haben wir beschlossen, bis auf Weiteres im Bunker der türkischen Botschaft zu schlafen. So recht trauen wir dem Frieden nicht und die meisten Hotels sind ohnehin geschlossen. Kemal haben wir gebeten, eine Frau zu finden, mit der wir ein Interview machen können. Ich will wissen, wie sie mit der neuen Situation umgeht. Nicht so einfach, denn mit fremden Männern darf sie keinesfalls sprechen und erst recht nicht vor einer Kamera.

Kemal, der „einfache“ Taxifahrer, ist wirklich gut! Zwei Tage später hat er eine junge Frau gefunden, die im zweiten Semester an der Universität studiert hat und das jetzt nicht mehr darf. Viel besser noch: sie soll Englisch und sogar etwas Deutsch sprechen. Ihr Vater, ein Hochschullehrer, ist mit dem Interview einverstanden, verlangt aber, dass wir völlig unauffällig und ohne sichtbare Kamera in sein Haus kommen. Für morgen Abend um sieben Uhr sind wir verabredet.

Die Familie wohnt im Ortsteil Wazir-Akhbar-Khan, einer Gegend, in der etliche Botschaftsgebäude stehen, Villen wohlhabender Bürger und sogar ein modernes öffentliches Schwimmbad gab es dort einmal. Längst zerstört in den Kämpfen der zurückliegenden Jahre. Der Besuch bei unserer Interviewpartnerin erfordert genaue Planung. Zwei weitere Taxis brauchen wir und zwei Rucksäcke. Orhan fährt zuerst mit Kemal, unserem Vertrauensmann. Die Kamera ist in einem Rucksack versteckt und von außen nicht als solche zu erkennen. Dann, 15 Minuten später, mit einem anderen Auto, macht Ali sich auf den Weg. Kassetten und Akkus sind bei ihm in einer Tasche. Eine weitere Viertelstunde danach bin ich unterwegs. Auch mit Rucksack. Darin alles, was wir für den guten Ton brauchen: Mikrofon, Windschutz, Mischer und ein paar Geschenke für die Familie. So gegen acht Uhr sind wir in der Villa versammelt. Waslat, so heißt unsere Protagonistin, sitzt schon auf einem der niedrigen Sofas. So, wie sie aussieht, würde sie auch in jede europäische Stadt passen. Bluejeans, ein weißes T-Shirt, dezent geschminkt und wallende, schwarze Haare. Ihr Vater kommt dazu, freut sich offenbar wirklich über unseren Besuch, spricht perfektes Englisch mit nur leichtem Akzent.

So, wie seine Tochter. Auf Deutsch bittet sie dann um Entschuldigung dafür, dass sie mit uns gerne Englisch sprechen möchte. Die Kamera läuft schon und Orhan versucht, mit dem wenigen vorhandenen Licht auszukommen. Waslat hat vor gut einem Jahr auf der Amani-Oberschule ihr Abitur gemacht. Bis vor ein paar Wochen ist sie zur Universität von Kabul gegangen, und hat dort Jura studiert. Der Lehrbetrieb, so erzählt Waslat, war nur sehr eingeschränkt möglich, da Teile der Uni zerstört waren. Außerdem, so glaubt sie, war die Universität bevorzugtes Angriffsziel der Taliban, da Ahmed Shah Masoud, ihr ärgster Widersacher, dort studiert hat.

Die Schule an der Waslat ihr Abi gemacht hat, ist schon im April 1924 eröffnet worden, gegründet von König Amanullah mit Hilfe der deutschen Regierung und deutscher Gelder. Jahrzehntelang war die Unterrichtssprache ausschließlich Deutsch, um den Schülern das Studium in Deutschland zu ermöglichen. Die Hoffnung der afghanischen Regierung war, auf diese Weise hochqualifizierte Fachkräfte für die Entwicklung des Landes zu bekommen. Später wurde dann nur noch zum Teil auf Deutsch unterrichtet zum anderen Teil auf Dari. Während der Kämpfe um Kabul wurde die Schule mehrmals beschädigt – der Unterricht ging trotzdem weiter.

Während Waslat erzählt, dass sie unter der neuen Regierung nicht mehr weiter lernen darf, kommen ihr die Tränen. Tränen der Wut, sagt sie. „Frauen sind nicht nur zum Kochen und Kinderkriegen da!“ wettert sie und bestätigt, dass sie den Plan, Richterin oder Rechtsanwältin zu werden, nicht aufgeben wird. „Nicht einmal alleine auf die Straße gehen darf ich jetzt. Wenn ich ein Restaurant von innen sehen möchte, muss ich wahrscheinlich ins Ausland gehen.“ Dann zieht sie ein blassblaues Stoffbündel hinter ihrem Rücken hervor und entfaltet es. Es ist eine Burka. „Diesen Fetzen muss ich jetzt außerhalb des Hauses immer anziehen. Ich kann ja kaum etwas sehen damit. Heute morgen wäre ich fast gegen einen Baum gelaufen.“ Die Studentin hat sich in Rage geredet und schleudert die Burka in eine Ecke. „Das ist doch Scheiße!“ flucht sie. Auf Deutsch.

Unsere Interviewpartnerin

Die Tür zum Flur öffnet sich, Waslats Bruder streckt den Kopf herein und sagt nur ein Wort: „Taliban“. Waslat springt ihrer Burka hinterher, greift sie und hechtet durch eine Klappe in der Außenwand in den Garten. Ihr Vater bedeutet Orhan, die Kamera unter einer dicken Decke zu verstecken. So etwas wie diese Klappe, durch die unsere Interviewpartnerin eben verschwunden ist, kenne ich aus Deutschland. Viel kleiner und für Katzen gemacht. Hier ist es ein Fluchtweg für Menschen.

Auf dem Flur sind Männerstimmen zu hören. Drei oder vier Personen? Eine der Stimmen gehört zu Waslats Bruder, die anderen scheinen auf ihn einzureden. Es wird lauter, Türen schlagen, Orhan ist extrem nervös.


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 23. Juli 2019 unter dem Titel „September/Oktober 1996 – Die Schule nach deutschem Vorbild„. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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