September/Oktober 1996 – Die Schule nach deutschem Vorbild und wieder der Kampf gegen Minen Noch immer wird lautstark auf dem Flur diskutiert. Dann knallen Türen. Hashmat, der Bruder von Waslat kommt zu uns ins Zimmer. Draußen scheint wieder Ruhe eingekehrt zu sein. „Religionspolizei“, sagt er, „die wollten angeblich wissen, ob bei uns alles in Ordnung

September/Oktober 1996 – Die Schule nach deutschem Vorbild und wieder der Kampf gegen Minen

Noch immer wird lautstark auf dem Flur diskutiert. Dann knallen Türen. Hashmat, der Bruder von Waslat kommt zu uns ins Zimmer. Draußen scheint wieder Ruhe eingekehrt zu sein. „Religionspolizei“, sagt er, „die wollten angeblich wissen, ob bei uns alles in Ordnung ist. Ich konnte sie abwimmeln“. Wären die Männer der Taliban-Polizei zu uns in den Raum gekommen, hätten sie schon an den Schweißperlen auf Orhans Stirn leicht erkennen können, dass hier „etwas nicht stimmt“.

Niemand hat die Nerven, das Interview mit der Studentin weiterzuführen. Das Risiko für alle Beteiligten wäre viel zu groß. Wir packen, und Hashmat besorgt wieder zwei zusätzliche Taxis. Kemal, unser Fahrer hat in der Nähe gewartet und wird herbeigeholt. Von draußen, durch das Fenster zum Garten winkt Waslat uns zu. Jetzt hat sie eine Burka an und den Gesichtsschleier so weit angehoben, dass wir sie erkennen können. Unter dem vorgeschriebenen Gewand noch immer Jeans und T-Shirt. Tränen in den Augen.

Eingangsschild der Amani-Oberschule

Am Morgen, beim Frühstück mit Necmettin, dem Hausmeister der türkischen Botschaft, überlegen wir, ob wir in ein Hotel umziehen sollten. Im Bunker ist es zwar sicher aber doch auch ziemlich unbequem. Nicht nur, dass die Betten, zumindest für mich, deutlich zu kurz sind, es wäre auch schön, mal wieder eine „richtige“ Toilette und Dusche zu haben und vom Zimmer aus dem Fenster sehen zu können. Und ein Hotelzimmer für sich alleine zu haben ist ja auch nicht schlecht…

Heute wollen wir an der Schule drehen, zu der Waslat vor ihrem Studium gegangen ist. Das Amani-Gymnasium ist mitten in Kabul, im Stadtbezirk Wazir-Akhbar-Khan. Sozusagen gleich um die Ecke ist RTA (Radio Television Afghanistan) und das Hotel Ariana, eines der größten der Stadt. In Steinwurfweite auch das Kino Ariana. Weitgehend zerstört und was nicht schon kaputt war, ist sicher von den einrückenden Taliban niedergemacht worden. Filmvorführungen sind ja bei Strafe verboten.

Die Schule ist, für afghanische Verhältnisse, riesig. Sicher deutlich größer als Gymnasien in westdeutschen Kreisstädten. Der Zaun ist weitgehend niedergewalzt, Fensterscheiben sind eingeschlagen oder durch Explosionen zerstört worden. Kein Mensch weit und breit als wir mit unserem Auto auf den Schulhof fahren. Kemal parkt vor einem der Eingänge, die ins Gebäude führen. Die hölzernen Doppeltüren stehen weit offen. Könnte das Gebäude vermint sein? Selbst hier, mitten in der Stadt, ist vermutlich die Zahl der verlegten Schützenminen (Anti Personal Mines) unüberschaubar groß. „Hallo,“ rufe ich, so laut ich kann. Noch einmal: „Hallo, anybody here?“. Tatsächlich kommt ein alter Mann die Treppe heruntergeschlurft. Er trägt ein ehemals weißes Hemd und einen Anzug, der ihm vor 15 oder 20 Jahren sicherlich einmal maßgeschneidert worden ist. Auf seinem Kopf ist ein Hut, so wie mein Vater ihn vor 30 oder 40 Jahren getragen hat. „Salam Aleikum“, begrüßt er Kemal, unseren Fahrer. Orhan und Ali fühlen sich gleich mit angesprochen und im Trio geben sie ihr „Aleikum Salam“ an den alten Mann zurück.

Kemal stellt uns vor, erklärt, dass wir für das Fernsehen der Deutschen Welle arbeiten, dass ich Deutscher bin und dass wir sehr gerne in der Schule drehen würden. Der Mann im Anzug, fast zwei Köpfe kleiner als ich, sieht mich an, lächelt und fällt mir um den Hals. „Wie schön, dass Sie hier sind!“ in fast perfektem Deutsch. „Ich bin Dr. Najib und war früher einmal Lehrer hier an der Schule. Kommen Sie, kommen Sie, lassen Sie uns einen Tee trinken.“ Langsam erklimmt er die Treppe nach oben. Es scheint ihm sichtlich Schwierigkeiten zu machen. In der ersten Etage der typische Anblick eines Schulgebäudes. Lange Gänge links und rechts des Treppenhauses und, von den Korridoren abgehend, Dutzende von Klassenräumen. Sogar der Geruch erinnert mich an meine Schulzeit.

Eines dieser Klassenzimmer scheint der ehemalige Lehrer sich als Wohnung eingerichtet zu haben. Ein paar Teppiche, ein Sofa, Tisch und Stühle, in der Ecke ein einfacher Gaskocher. Ganz hinten, an der Wand stehen noch ein paar übereinander gestapelte Schulbänke. Ali und ich sitzen auf dem Sofa, Orhan baut seine Kamera auf. Dr. Najib verschwindet für eine halbe Minute und kommt mit einer mit Wasser gefüllten Blechkanne zurück. Ob er einverstanden ist, dass wir das Gespräch mit ihm filmen? Kein Problem, er freut sich, wenn er der Welt erzählen kann, wie das Leben in Afghanistan im Herbst 1996 ist.

Ein paar Minuten später ist der aromatische grüne Tee fertig. „Wir können hier schon seit ein paar Jahren nicht mehr richtig unterrichten. Hin und wieder mal ein paar Schüler aber nichts, was regelmäßig funktionieren würde.“ Zwischendurch schlürft der alte Mann seinen dampfend heißen Tee. „Ganz viele unserer Kinder sind mit ihren Eltern geflohen, ein paar sind während der Kämpfe ums Leben gekommen. Seit langen haben Eltern hier in Afghanistan größere Sorgen, als die Bildung ihrer Kinder.“ Dann schweigt er minutenlang – und ich stelle keine Fragen sondern übersetzte das, was er gesagt hat, für Ali und Orhan leise ins Türkische.

Ja, und jetzt ist für uns und viele, viele andere Schulen wohl alles vorbei. Mädchen dürfen gar nicht mehr unterrichtet werden und auch bei Jungen sieht es die neue Taliban-Regierung wohl lieber, wenn sie auf eine Koranschule gehen und nicht auf so eine moderne Eliteanstalt wie dieses Gymnasium.“ Ich will von ihm wissen, ob er sich an Waslat erinnern kann. „Ja natürlich! Die war so groß und so frech. Aber eine besonders intelligente Schülerin. Die wollte doch in Deutschland studieren.“ „Nein, Dr. Najib, das hat wohl nicht geklappt. Sie hat hier an der Uni angefangen, aber darf jetzt natürlich nicht weiter lernen.“ Wieder blickt er einfach traurig vor sich hin. Dann fordert er uns auf, einen Rundgang durch die Schule mit ihm zu machen. Minen, so sagt er, gäbe es hier keine – obwohl sehr, sehr viele Gebäude in der Stadt vermint worden seien.

Autowracks am Television Hill in Kabul – Foto: Yan Boechat

Die Turnhalle sieht aus, als wäre sie direkt aus Deutschland eingeflogen worden. Die klassische Sprossenwand, Kletterstangen und -seile, Barren und Pferd in der Ecke und von der Decke hängen noch immer die Ringe mit ihren Lederummantelungen. In der Decke klaffen zwei große Löcher. Granaten, sagt der Ex-Lehrer. Direkt unter den Einschlaglöchern ist der Holzfußboden aufgequollen und gerissen. Auch hier unten sind Klassenräume. In den meisten stehen noch die Schulbänke – einige mögen schon als Brennholz benutzt worden sein. Auf diese Kombinationen aus Tisch und Sitzbank war die Amani-Schule immer besonders stolz. Sie wurden aus Deutschland importiert und waren in einem Land, in dem wahrscheinlich die Mehrheit der Schüler auf dem Fußboden oder auf einem Holzschemel sitzen muss, der pure Luxus.

Ob wir nicht doch noch einen Tee trinken möchten, fragt Dr. Najib uns. Doch wir haben heute Nachmittag noch einen Termin, versprechen aber, dass wir ihn wieder besuchen werden.

Vom Stadtzentrum aus fahren wir in Richtung Süden, in Richtung des Darulaman-Palastes. Kurz hinter dem Jugend- und Sportzentrum, das während der Besatzung durch Sowjetische Truppen gebaut wurde, sind wir mit einer Gruppe von Minensuchern verabredet. Es sind andere Leute als vor ein paar Tagen, als wir die Hündin Sonja begleitet haben. Heute soll hier in einer Wohnsiedlung gesucht werden. Viele der Häuser sind zerstört und die Bewohner wollen sie reparieren oder komplett neu bauen. Doch das geht natürlich nur, wenn vorher alle Minen beseitigt werden.

Was hier gesucht wird, sind keine Artilleriegranaten oder Minen gegen gepanzerte Fahrzeuge. Hier wird vor allem nach Schützen- und Springminen gesucht. Minen gehören sicherlich zu den heimtückischsten Waffen, die der Mensch sich je ausgedacht hat. Die in Italien hergestellte und in alle Welt verkaufte „Valmera 69“ ist dabei eine der schlimmsten. Sie gehört zu den so genannten Springminen, hat ungefähr die Form und Größe einer Ein-Kilo-Konservendose, aus der oben fünf fingerlange „Stachel“ hervorstehen. Die Mine wird so gelegt, dass nur die „Stachel“ aus der Erde herausragen. An den „Stacheln“ werden häufig sehr dünne und somit kaum sichtbare Stolperdrähte angebracht und knapp über der Erdoberfläche gespannt. Wird nun einer dieser „Stachel“ oder einer der Drähte berührt, so wird die Mine aus der Erde herausgeschossen, bis auf eine Höhe von ca. 100 bis 150 Zentimeter. Erst dann, bei Erreichen des höchsten Punktes, erfolgt die eigentliche Detonation, bei der Hunderte von Stahlkugeln oder -splittern in einem Umkreis von bis zu 140 Metern verschossen werden. Normale Anti-Personen-Minen sollen die Person, die darauf tritt, verletzen und kampfunfähig machen. Mit Glück wird „nur“ der Unterschenkel zerstört.

Springmine „Valmera 69“

Durch eine Springmine wird nicht nur derjenige verletzt, der die Mine auslöst, sondern die Stahlladung kann viele Menschen gleichzeitig treffen und töten oder schwer verwunden. Suchhunde halten die Drähte der Springminen nicht für gefährlich oder können sie nicht erkennen. Deswegen werden sie hier nicht eingesetzt.

Die Männer sagen uns sehr klar und deutlich, wo genau wir uns bewegen dürfen und von welcher Stelle aus wir filmen sollten. Und dann gehen sie an die Arbeit. Wieder mit Schutzkleidung, wieder mit einem langen Messer. Vorsichtig und Stück für Stück werden Boden und Mauerreste abgekratzt. Stundenlang. Als die Sonne langsam untergeht, haben sie drei kleine Schützenminen aus Kunststoff gefunden. Mehr nicht. Allein in diesem Häuserblock, so wird vermutet, sollen aber bis zu Tausend Minen gelegt worden sein.


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 6. August 2019 unter dem Titel „Oktober 1996 – Lebende Leichen und der Mangel an Personal„. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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