Oktober 1996 – Lebende Leichen und der Mangel an Personal Mit Sonnenuntergang werden die gefundenen Minen auf einem freien Platz in der Nähe gesprengt. Entschärfen? Ist schwierig und gefährlich – Sprengen so viel einfacher. Für mich sehen diese Minen sehr modern aus. Mit nicht einmal 10 Zentimetern Durchmesser klein und kompakt und vollständig aus Kunststoff.
Oktober 1996 – Lebende Leichen und der Mangel an Personal
Mit Sonnenuntergang werden die gefundenen Minen auf einem freien Platz in der Nähe gesprengt. Entschärfen? Ist schwierig und gefährlich – Sprengen so viel einfacher. Für mich sehen diese Minen sehr modern aus. Mit nicht einmal 10 Zentimetern Durchmesser klein und kompakt und vollständig aus Kunststoff. Gerade wegen dieses Plastikgehäuses kann nicht mit Metalldetektoren gesucht werden. Viele Anti-Personen-Minen haben einen raffinierten Zündmechanismus. Tritt man auf die scharfe Mine, ist nur ein dezentes Knacken zu hören. Sonst nichts. Erst dann, wenn man den Fuß wieder hebt, die Mine also entlastet, explodiert der Sprengstoff. Da man erkannt hat, dass diese Minen heimtückische Waffen und zudem die überwiegende Zahl der Minenopfer Zivilisten sind, hat im April dieses Jahres der Bundesverteidigungsminister bekannt gegeben, dass die Bundeswehr ab sofort auf Tretminen verzichtet. Bestände sollen zerstört werden.
Mit Kemal und seinem Taxi sind wir unterwegs zu einem großen Krankenhaus im Stadtteil Wazir-Akhbar-Khan. Dort hat man sich auf die Behandlung von Minenopfern spezialisiert. Es ist kaum Verkehr in der Stadt. Hin und wieder rasen Pick-Up-Fahrzeuge mit Kämpfern der neuen Regierung durch die Straßen. Mit wehenden Turbantüchern und weiten, flatternden Hosen – alle noch immer bis an die Zähne bewaffnet. Es ist jetzt vier Tage her, dass die Islamisten Kabul erobert haben. Schüsse hört man nur noch ganz vereinzelt, Artilleriefeuer gar nicht mehr. Was ich hin und wieder zu hören glaube, sind explodierende Minen. Bewusst ausgelöst, um sie zu vernichten oder durch jemanden, der darauf getreten ist. Am Geräusch könnte ich es sicherlich nicht unterscheiden.Als wir am Krankenhaus ankommen, wird gerade ein Verletzter gebracht. Transportiert auf der Ladefläche eines russischen Jeeps. Echte Krankenwagen habe ich in Kabul nicht gesehen, seitdem wir vor über zwei Wochen hier angekommen sind. Geklaut, zerstört oder anderweitig benötigt? Ich weiß es nicht. Drei Männer zerren ihn aus dem Fahrzeug. Eine Trage steht nicht bereit, so tragen ihn die drei im Laufschritt ins Hospital. In seinem Gesicht Blutspritzer, eine Hand mit einem blutigen Lappen umwickelt, die Hose blutgetränkt. Genau die Merkmale, die ich schon bei Minenopfern während des Bürgerkrieges in Somalia gesehen habe.
Nachdem sich die Aufregung am Eingang etwas gelegt hat, fragen wir uns zum Büro des Direktors durch. Eine Fremdsprache, die auch einer von uns beherrscht, spricht er nicht. Kemal, ohne den wir inzwischen überhaupt nicht mehr weiterkämen, bringt unser Anliegen vor. Es sei überhaupt kein Problem, übersetzt unser Fahrer und Dolmetscher. Wir dürfen überall drehen und auch mit Leuten reden – nur die mit den schwarzen Turbanen sollten wir besser nicht filmen. Ein Freibrief für uns und gleichzeitig leise Kritik an den Taliban? Wir werden sehen…
Es scheint, als gäbe es hier vor allem diese „Krankensäle“, die in Deutschland zum Glück seit vielen Jahren Geschichte sind. Mehr als 20 Betten stehen in dem Raum, in den wir gerade gekommen sind. Alle Betten sind belegt und die meisten umlagert mit Frauen und Kindern – offensichtlich Angehörigen der Patienten. Drei Männer in ehemals weißen Kitteln sind mit Patienten beschäftigt. Orhan dreht. Nach ein paar Minuten kommt einer der drei auf uns zu, fragt ob wir französisch sprechen. Ich nicke zaghaft – viel mehr als Schulfranzösisch ist es bei mir nicht – aber Ali ist ja dabei. Im Gegensatz zu mir liebt er die Sprache und spricht sie perfekt. Es ist Dr. Ahmadzai. Er ist Chirurg, Paschtune und hat in Paris studiert. Orhan hat seine Kamera längst auf ihn eingestellt und ganz kurz erzählt der Arzt uns, was hier gerade passiert.
In diesem Saal und in zwei weiteren sind ausschließlich Minenopfer untergebracht. Es gäbe aber viel mehr, so dass die Patienten häufig auch in den Gängen auf Matratzen liegen müssten. Er sei überwiegend damit beschäftigt, Füße und Beine zu amputieren, da die Sprengladungen den Knochen oft so zertrümmern, dass er nicht mehr repariert werden kann. Der Mediziner hat es eilig, bietet uns aber an, ihn zu begleiten. Er würde dann noch etwas mehr von seiner Arbeit erzählen.Also hinter ihm her, aus diesem Saal hinaus, ein paar Meter den Gang hinunter in den nächsten. Noch größer – bestimmt an die 40 Patienten. Die Betten stehen dich an dicht, für Angehörige ist fast nur am Fußende Platz. Dr. Ahmadzai drängt sich zwischen Frauen und Kindern hindurch, verscheucht sie mit harschen Worten und sieht sich das Krankenblatt eines Mannes an, der den Eindruck macht, mehr tot als lebendig zu sein. „Auch eine Tretmine“, sagt der Arzt, „vor zwei Tagen ist er gebracht worden, lag aber wohl schon mindestens einen Tag dort, wo es passiert ist, ohne dass Hilfe in der Nähe war.“ Der Mann ist außergewöhnlich blass, das Atmen fällt ihm sichtlich schwer. Natürlich gibt es an der Wand keinen Sauerstoffanschluss – nicht einmal eine Steckdose. „Ich musste ihm ein Bein über dem Knie abnehmen und auf der anderen Seite den Fuß. Das mit dem Fuß weiß er wahrscheinlich noch gar nicht. Was er vermutlich auch noch nicht weiß, ist, dass er keine Hoden mehr hat. Die sind durch den Druck der Explosion beide zerstört worden.“ Nur selten wird darüber gesprochen: ein großer Teil der Männer, die durch Tretminen verletzt werden, verlieren auch einen oder beide Hoden.
Reste von Verbandsmaterial, alte Lappen, benutzte Bettpfannen, Nierenschalen, abgeschnittene Haare, Blutflecken und jede Menge Dreck auf dem Fußboden. Soweit die beängstigende Enge es erlaubt, sehe ich an manchen Betten Angehörige, die einen Patienten waschen oder ihm etwas zum Essen geben. Bei einem der frisch Operierten hat sich ein Schlauch der Infusion gelöst, die glasklare Flüssigkeit tropft nicht mehr in seine Adern sondern auf den Boden. Niemand kümmert sich darum. Dr. Ahmadzai ist verschwunden, niemand, der als Pflegepersonal zu erkennen wäre, im ganzen Saal. Den Schlauch einfach wieder auf die Kanüle stecken? Ich traue mich nicht, das Wort „Luftembolie“ schwirrt mir durch den Kopf. Auf dem Flur versuche ich eine Krankenschwester oder einen Pfleger zu finden. Vergeblich. Minutenlang hetze ich durch die Gänge, finde dann den französisch sprechenden Arzt. „Ja, ja, ich bin in zwei Minuten wieder bei euch“, sagt er im Vorbeirennen. Vermutlich ist er irgendwo zu einem Notfall gerufen worden. Einem anderen Notfall.
Nach ein paar Minuten ist er dann tatsächlich wieder im 40-Betten-Saal und schließt den Tropf wieder an den Blutkreislauf des Patienten an. „Ich muss etwas essen. Kommt mit, dann können wir noch ein paar Minuten reden“, übersetzt Ali aus dem Französischen. Nach ein paar Schritten landen wir in einem Raum, der vermutlich ein Arztzimmer sein soll. Ein großer Tisch mit sechs Stühlen in der Mitte, zwei kleinere Tische an der Wand. Auf einem der kleinen Tische ein Gaskocher. So etwas wie ein Campingkocher, bei dem man den Brenner direkt auf die Gasflasche schraubt. Über der Flamme steht ein kugelförmiger Druckkochtopf. Der Chirurg dreht den Gashahn zu, lässt zischend den Dampfdruck aus dem Topf und löffelt sich dann etwas auf einen Teller, das aussieht wie eine Linsensuppe mit Kartoffeln und kleinen Fleischstückchen. Es riecht lecker. Gefragt haben wir den Arzt nicht, doch Orhan dreht und es sieht aus, als wäre das o.k. „Warum sind in den großen Krankensälen eigentlich überhaupt keine Pflegekräfte zu sehen?“ will ich wissen. Dr. Ahmadzai kaut weiter an seinem Linseneintopf und sieht mich etwas skeptisch an. „Das fragst du ernsthaft? Vor genau vier Tagen haben wir von einem Moment auf den anderen 80 Prozent unseres Personals auf der Männerstation verloren. Seitdem nämlich dürfen wir hier keine Krankenschwestern mehr beschäftigen. Nur noch männliche Pfleger.“ Auf der Frauenstation, die ohnehin ziemlich klein ist, so erklärt er weiter, könnten wir jetzt drei Pflegekräfte auf eine Patientin haben. Hier, wo die Männer behandelt werden, haben wir jetzt rund 50 Patienten pro Pfleger. „Und, könnt ihr all die Verletzen und Halbtoten überhaupt noch vernünftig behandeln?“ will ich wissen. Und die Antwort kommt brutal: „Nein, es wird viele unnötige Todesfälle geben.“
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 20. August 2019 unter dem Titel „Oktober 1996 – Interview mit Mullah Omars Vertreter„. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]