Oktober 1996 – Interview mit Mullah Omars Vertreter Eines muss man den Taliban lassen: sie scheinen schnell zu sein mit dem Aufbau einer Regierung. In die türkische Botschaft, in deren Bunker wir noch immer hausen, wird uns die Nachricht übermittelt, dass wir uns umgehend beim neuen Außenministerium zu melden haben. „Was meinen die mit ‚umgehend‘?“,

Oktober 1996 – Interview mit Mullah Omars Vertreter

Eines muss man den Taliban lassen: sie scheinen schnell zu sein mit dem Aufbau einer Regierung. In die türkische Botschaft, in deren Bunker wir noch immer hausen, wird uns die Nachricht übermittelt, dass wir uns umgehend beim neuen Außenministerium zu melden haben. „Was meinen die mit ‚umgehend‘?“, will ich von Kemal, unserem Fahrer wissen. Der zuckt mit den Schultern. „Wer kennt schon die neue Regierung. Vielleicht am Besten gleich jetzt!“ Nach dem Frühstück also zum neuen, alten Außenministerium in der Wazir Akhbar Khan Straße. Eigentlich sind es dorthin nur gut fünf Minuten zu Fuß. Kemal rät ab und auch Necmettin, der Hausmeister hier in der Botschaft, will unbedingt, dass wir die 500 Meter mit dem Auto fahren. Die Außenmauer der parkartigen Anlage, in der das Ministerium ist, ist teilweise zerstört. Einschüsse von Gewehr- und Artilleriemunition fast überall. Der Schlagbaum am Pförtnerhäuschen ist kurios verbogen und erfüllt seinen Sinn nicht mehr. Irgendjemand hält uns auf und will Dokumente sehen, kann aber offensichtlich nicht lesen. Jedenfalls hält er meinen Reisepass falsch herum. Kemal erklärt, dass wir türkische Journalisten seien und aufgefordert wurden, uns hier zu melden.

Jubel der Taliban nach der Machtübernahme. (Standbild aus Video)

In einem der Gebäude scheint man eine Art Pressestelle eingerichtet zu haben. Der Mann, der eben noch so getan hat, als würde er unsere Pässe kontrollieren und dem natürlich nicht aufgefallen ist, dass ein „türkischer“ Journalist einen deutschen Pass besitzt, beschreibt den Weg. Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß und das Büro ist nicht zu übersehen. Eine Schlange von vielleicht 20 Ausländern steht davor, einige mit einer TV-Kamera in der Hand. Offensichtlich sind alle Medienvertreter, deren man habhaft werden konnte, einbestellt worden. Vor uns in der Warteschlange steht ein Team von TV5, dem französisch-belgisch-schweizerischen Sender, der weltweit in französischer Sprache sendet. Ein Grund für Ali, unserem türkischen Producer, sich zu freuen. Er ist nicht nur frankophon sondern auch frankophil. Auch die Franzosen arbeiten mit einem Einheimmischen zusammen. Kemal und Mukhim, der Mitarbeiter des Teams von TV5, tauschen sich aus.

Nach den Informationen, die wir jetzt bekommen, sind, seit die Taliban vor wenigen Tagen die Regierungsgewalt übernommen haben, fast alle Beamten, die nicht paschtunischer Abstammung sind, entlassen worden. Hazara, Usbeken und Tajiken, mussten ihre Posten verlassen und wurden durch Paschtunen ersetzt. Das Ergebnis muss zwangsläufig sein, dass rund die Hälfte der Bevölkerung, nämlich die, die kein Paschtunisch spricht, jetzt nicht mehr mit offiziellen Stellen kommunizieren kann. Über das Radio soll weiterhin regelmäßig verbreitet werden, dass im ganzen Land die Gesetze der Scharia gelten. Das bedeutet unter Anderem, dass Todesstrafen durch Steinigung verhängt werden können, dass Hände und/oder Füße amputiert werden und dass zu Stock- oder Peitschenhieben verurteilt werden kann. Vor ein paar Tagen wurden ja wir schon Zeugen einer solchen Bestrafung.

Nach einer guten Stunde werden wir zu den neuen Beamten der neuen Behörde vorgelassen. Eine Holztreppe führt in die erste Etage und dort betreten wir einen Raum mit drei Schreibtischen. Ali wird hier als Teamleader auftreten, das hatten wir vorhin vereinbart. Vielleicht hat er, als Moslem und Türke, bessere Chancen bei den Taliban-Beamten als ich, als Mensch aus dem westlichen Ausland. Es dauert keine zehn Minuten und wir haben so etwas wie Presseausweise. Ohne Passbild aber mit dem Namen und den persönlichen Daten. Geschrieben auf Paschtu, ohne Foto aber mit eindrucksvollem Stempel und wichtig aussehender Unterschrift. Und dann kommt Ali mit der Frage, die wir auch vorher abgesprochen hatten. Wir möchten ein Interview mit einem Sprecher oder Mitglied der neuen Regierung. Die Antwort kommt völlig entspannt: „Bitte gehen Sie zur türkischen Botschaft, wo Sie ja wohnen. Noch heute Abend bekommen Sie Bescheid.“

Damit gerechnet haben wir alle drei nicht: Noch vor Einbruch der Dunkelheit kommt ein Bote und hinterlässt bei Necmettin eine Nachricht. Morgen früh um acht sollen wir in der Presseabteilung des Außenministeriums unser Interview bekommen. Mit wem? Wissen wir nicht. Orhan überprüft die Ausrüstung. Bild und Ton müssen stimmen, um zu einem guten Interview zu kommen. Batterien werden vorsichtshalber noch einmal geladen, die Linse geputzt.

Späteres (geglücktes) Interview mit Mullah Wakil Ahmed Muttawakil

Schon vor Acht stehen wir wieder beim Pförtnerhaus des Ministeriums. Kemal erklärt, warum wir hier sind, und wir dürfen auf das Gelände. Dort, wo wir erst gestern unsere „Presseausweise“ bekommen haben, wartet man schon auf uns. Über ein paar Korridore und Treppen werden wir in einen saalähnlichen Raum mit einer langen Fensterfront geführt. Wunderbar! Die Fenster gehen nach Osten, so dass wir, helles Sonnenlicht für das Interview haben werden. Ein kleiner Mann mit langem graublauem Hemd und schwarzem Jackett darüber stürmt durch die Tür und auf Ali zu. „You will now meet Mullah Wakil Ahmed Muttawakil. He is the spokesperson of Mullah Mohammed Omar, the Emir of Afghanistan. And he will be our Foreign Minister in future.“ „Vielen Dank für die Ankündigung“, erwidert Ali, „und Sie werden für uns übersetzen?“ Nein, das wird er nicht, ist die Antwort, denn unser Interviewpartner spricht fließend Englisch.

Und dann kommt der Mann, auf den wir warten. Außergewöhnlich groß für einen Afghanen, weiße, traditionelle Kleidung und ein hellgrauer Turban. Er geht an uns und der schon aufgebauten Kamera vorbei und setzt sich auf einen Stuhl, direkt mit dem Rücken zum Fenster. Selbst als Nicht-Kameramann weiß ich: das geht gar nicht. Durch das helle Sonnenlicht hinter ihm wird sein Gesicht fast schwarz wirken. Orhan, der Kameramann, sagt es mit einem Wort: unbrauchbar. Ali versucht es dem Mullah zu erklären, bittet ihn, mit dem Gesicht zum Fenster auf der anderen Seite des Raumes zu sitzen. Die Antwort, die er bekommt, ist eindeutig: „I will sit here!“


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 3. September 2019 unter dem Titel „Oktober 1996 – Beten als Regierungsprogramm„. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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