Oktober 1996 – Beten als Regierungsprogramm Er lässt absolut nicht mit sich reden. Mullah Wakil Ahmed Muttawakil, der Sprecher von Staatsoberhaupt Mullah Omar bleibt stur vor dem sonnendurchstrahlten Fenster sitzen. Dann fangen wir also an und hoffen, dass das Ergebnis halbwegs brauchbar werden wird. Meine erste Frage: „Mullah, Ihre Regierung will wieder Frieden nach Afghanistan

Oktober 1996 – Beten als Regierungsprogramm

Er lässt absolut nicht mit sich reden. Mullah Wakil Ahmed Muttawakil, der Sprecher von Staatsoberhaupt Mullah Omar bleibt stur vor dem sonnendurchstrahlten Fenster sitzen. Dann fangen wir also an und hoffen, dass das Ergebnis halbwegs brauchbar werden wird. Meine erste Frage: „Mullah, Ihre Regierung will wieder Frieden nach Afghanistan bringen. Wie kann das, bei einem Land, das derzeit so zerrissen ist, wie das Ihre, überhaupt erreicht werden?“ Er scheint kaum nachdenken zu müssen, holt nur kurz Luft und fängt an, zu sprechen. Doch verstehen kann ich nichts. Es ist kein Englisch sondern vermutlich Paschtu. Nach rund einer halben Minute merke ich, dass er betet. Immer wieder kommen Begriffe wie Allah-u-Akbar vor. Wie immer bei Interviews für Reportagen, hatte ich den Mullah gebeten, mich während des gesamten Interviews anzusehen. Bisher hat er das nicht eine Sekunde lang getan. Auch in die Kamera schaut er nicht. Statt dessen sieht es aus, als würde sein Kopf kreisen. Abwechselnd sieht er an die Decke, an eine der Wände, einmal sogar kurz aus dem Fenster hinter ihm.

Nach gefühlten 10 Minuten wechselt er urplötzlich ins Englische: „Wir machen nur das, wofür die Menschen in Afghanistan seit 14 Jahren beten. Sie wollen Leben, wie der Prophet es von 1.400 Jahren tat. Wir wollen hier bei uns die Zeit des Propheten wieder herstellen.“ Ansehen tut er mich noch immer nicht. Was sucht er dort oben an der Decke? Ob denn die Bevölkerung demnächst die Möglichkeit haben werde, Wahlen abzuhalten, will ich von ihm wissen. Er antwortet: „Die Sharia, unser einziges Gesetz, erlaubt weder Politik noch politische Parteien. Deshalb werden zum Beispiel Beamte oder Soldaten jetzt auch nicht mehr bezahlt. Sie bekommen aber Lebensmittel, Kleidung, Schuhe und Waffen von uns. Das genügt. So leben sie gottgefällig.“ „Aber, wenn nicht gewählt wird, wer legt dann fest, wer das Staatsoberhaupt ist?“ hake ich nach. „Das kann niemand außer Allah festlegen. Und der hat bestimmt, dass Mullah Omar unser Emir, unser Führer ist. Wir sind sicher, dass das den Vorschriften der Sharia entspricht. Es wird keinen Präsidenten geben, das sieht das Gesetz nicht vor. Unser Emir trifft letztendlich alle Entscheidungen. Wahlen sieht die Sharia nicht vor und deswegen lehnen wir sie ab.“

Noch knapp 10 Minuten machen wir in diesem Stil weiter. Wir drehen uns im Kreis, seine Antworten sagen letztendlich immer wieder, dass Allah und Mullah Omar die zukünftigen Geschicke des Landes bestimmen werden. Alles immer im Interesse der Bevölkerung, aber ohne sie jemals zu fragen. Orhan, der Kameramann bedeutet mir, dass die Kassette fast zu Ende ist. Rund 30 Minuten haben wir jetzt mit Mullah Wakil Ahmed Muttawakil verbracht, ohne, dass er mich eines Blickes gewürdigt hätte. Von der halben Stunde sind rund 10 Minuten Gebet. Höflich bedanke ich mich bei unserem Interviewpartner, der steht auf und geht, ohne uns auch nur anzuschauen.

Zurück im Botschaftsbunker sehen wir uns das gedrehte Material an. So, wie es derzeit ist, kann es nicht gesendet werden. Der Kontrast zwischen gleißendem Sonnenlicht hinter dem Kopf des Mullahs und seinem Gesicht, kann die Kamera nicht verarbeiten. Hier in Kabul haben wir keine Möglichkeit, das Video technisch zu bearbeiten. Ein guter Cutter in Berlin könnte das vielleicht schaffen. Ich frage mich, ob wir gerade ein paar Stunden Zeit vergeudet haben. Nein! Haben wir nicht. Für mich war das Interview mit Mullah Wakil Ahmed Muttawakil eine wichtige Erfahrung – wenn auch eine, an die ich mit Kopfschütteln zurückdenken werde. Und ich bin froh, dass er überhaupt bereit war, mit uns zu reden. Ein paar Tage später wird das Filmen von Menschen bei Strafe verboten.


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 17. September 2019 unter dem Titel „Oktober 1996 – Rausschmiss aus dem neuen Paradies„. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

Leave a Reply