Oktober 1996 – Rausschmiss aus dem neuen Paradies Noch immer hausen wir im Bunker unter der türkischen Botschaft. Nötig wäre es natürlich nicht mehr, Bomben- und Artillerieangriffe gibt es schon seit Tagen nicht mehr. Dringend müssen wir uns jetzt auf die Suche nach einem brauchbaren Hotel machen. Mindestens eine Woche wollen wir noch bleiben, die
Oktober 1996 – Rausschmiss aus dem neuen Paradies
Noch immer hausen wir im Bunker unter der türkischen Botschaft. Nötig wäre es natürlich nicht mehr, Bomben- und Artillerieangriffe gibt es schon seit Tagen nicht mehr. Dringend müssen wir uns jetzt auf die Suche nach einem brauchbaren Hotel machen. Mindestens eine Woche wollen wir noch bleiben, die Entwicklung beobachten und darüber berichten. Das Interview mit dem Vertreter des Staatsoberhaupts ist so, wie es ist, wirklich nicht zu gebrauchen.
Ich würde gerne noch etwas mehr zum Thema „Minen“ drehen, das scheint derzeit hier eines der drängendsten Probleme zu sein. Noch einmal fahren wir zu dem Krankenhaus, in dem wir vor ein paar Tagen schon gefilmt hatten. Ganz kurz möchte ich noch einmal mit Dr. Ahmadzai, dem französisch sprechenden Paschtunen reden. Er sitzt in dem kleiner Arztzimmer, in dem er mit uns vor ein paar Tagen sein Mittagessen gekocht hat. „Doktor, Sie haben uns von Amputationen erzählt, die Sie durchführen müssen,“ frage ich ihn. „Wissen Sie, ob die Patienten, denen sie ein Bein abnehmen müssen, irgendwo Prothesen bekommen?“ Natürlich weiß er das. Nur ein paar Hundert Meter weg ist eine Klinik, in der Mitarbeiter von ausländischen Hilfsorganisationen arbeiten. Dort, so sagt Dr. Ahmadzai, werden Beinprothesen hergestellt und angepasst.
Das Gebäude ist leicht zu finden. Der Wächter am Eingang fragt uns nur, ob wir Waffen haben und winkt uns dann freundlich durch. Im Innenhof wird klar, dass wir hier absolut richtig sind. An horizontalen Stangen und an Seilen hangeln sich Männer entlang, die hier lernen, mit einer Prothese zu laufen. Verbissene Gesichter, Flüche, Tränen.Orhan will drehen, doch ich halte ihn davon ab. „Lass uns erst den Chef hier fragen, dann können wir uns anschließend Zeit lassen beim Drehen“, bitte ich ihn. Der Direktor ist schnell gefunden und es ist ein überaus freundlicher Mann. Kemal, unser Fahrer, übersetzt für uns. Gerne dürfen wir drehen, doch wir sollen so arbeiten, dass man uns von draußen nicht beobachten kann. Und gerne möchte der Krankenhausleiter uns auch in seiner Klinik herumführen.
Wunderbar! Alles, was mit Prothesen zu tun hat, möchten wir sehen. „Wir machen hier eigentlich nur Beinprothesen, fast nur Unterschenkel“, übersetzt Kemal den Chef. Der Grund dafür ist, dass fast alle Patienten, die hierher kommen, Opfer von Tretminen sind. Dort, wo die künstlichen Gliedmaßen hergestellt werden, sieht es aus, wie in einer Tischlerei. Nachdem die Erfordernisse des einzelnen Patienten vorher genau vermessen wurden, wird die Prothese hier angefertigt. Ganz klassisch, mit Sägen und Feilen wird das roh zusammengefügte Holz in eine Form gebracht, die einem natürlichen Unterschenkel ziemlich ähnlich ist.
Schon bevor Schenkel und Fuß genau geformt sind, wird das hölzerne Glied zum ersten Mal angepasst. Es sieht aus, als wäre das manchmal ein ziemlich schmerzhafter Vorgang für den Patienten. Ein Mädchen sitzt vor mir auf einem hohen Stuhl. Von ihrem rechten Unterschenkel ist unter dem Knie nur noch ein kurzer Stumpf übrig. Mit riesengroßen schwarzen Augen schaut sie uns an, wenn wir in einer für sie fremden Sprache miteinander sprechen. Ich schätze, dass sie ungefähr 12 oder 13 Jahre alt ist. „Sie ist beim Wäschewaschen am Fluss auf eine Mine getreten,“ liest der Direktor aus der Krankenakte vor, „ein Unterschenkel musste ihr abgenommen werden, die Wunden am Bauch und an den Händen sind gut verheilt und auch der Stumpf sieht so aus, als könne sie jetzt anfangen, mit ihrer Prothese zu üben.“
Der Stumpf ist fest mit einem polsterndem Verband umwickelt, als der Mann, der eben noch an dem hölzernen Fuß gefeilt hat, ihr die Prothese über den Rest ihres Unterschenkels streift und mit Riemen befestigt. Ganz vorsichtig und mit Hilfe des Pflegers steht das Mädchen auf und versucht, das „neue Bein“ zu belasten. Offensichtlich vor Schmerzen wimmernd hält die Kleine sich an der an der Wand angebrachten Stange fest und wagt einen ersten Schritt.Hier werden schon seit fast 10 Jahren Prothesen hergestellt und angepasst. Für weibliche Patienten ebenso wie für männliche. „Ob das so weiter gehen kann, weiß ich nicht,“ sagt mir der Direktor, „jetzt, nachdem die Taliban die Regierung von Afghanistan übernommen haben, werden wir wohl bald keine Mädchen und Frauen mehr behandeln dürfen.“
Am nächsten Morgen gibt es für uns „Bunkerbewohner“ wieder eine Botschaft vom Taliban-Außenministerium. Wieder werden wir einbestellt und sollen uns sofort in der dortigen Pressestelle einfinden. Kein Problem, schon kurz vor neun Uhr sind wir wieder dort, wo wir jetzt schon zweimal waren. Diesmal trägt der Mann einen schwarzen Turban. Nur eine einzige Information hat er für uns: „Sie haben gegen die neuen Gesetze verstoßen und müssen das Land innerhalb von 24 Stunden verlassen.“ Keine Diskussion ist möglich, Fragen werden nicht beantwortet.
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 1. Oktober 2019 unter dem Titel „Oktober 1996 – Feuer im Flughafengebäude„. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]