Juni 1973 – Auf dem Weg ins Königreich Gut sechs Wochen sind wir jetzt unterwegs mit dem ollen blauen VW-Bus. Berlin, Linz, Klagenfurt, durch den höllischen, von KZ-Häftlingen und anderen Zwangsarbeitern erbauten Loibltunnel nach Ljubljana. Weiter über Zagreb, Belgrad, Niş und Sofia nach Istanbul. Pause. Lange Pause. Nach gut einer Woche vom Bosporus weiter in

Juni 1973 – Auf dem Weg ins Königreich

Gut sechs Wochen sind wir jetzt unterwegs mit dem ollen blauen VW-Bus. Berlin, Linz, Klagenfurt, durch den höllischen, von KZ-Häftlingen und anderen Zwangsarbeitern erbauten Loibltunnel nach Ljubljana. Weiter über Zagreb, Belgrad, Niş und Sofia nach Istanbul. Pause. Lange Pause. Nach gut einer Woche vom Bosporus weiter in die Ost-Türkei, mit der Eisenbahnfähre über den Van-Gölü (Van-See) und endlich in den vom Schah und seiner Clique beherrschten Iran.

Der VW-Bus ist jetzt fünf Jahre alt. Bei einem großen Berliner Kaufhaus diente er als Personentransporter, wir haben ihn günstig bekommen. Etwas umgebaut hat er jetzt Sitzplätze für fünf Leute und dahinter eine Liegefläche von ungefähr 200 x 160 cm. Unter der Spanplatte mit Matratze ist reichlich Stauraum. Für die beiden Vordersitze haben wir Sicherheitsgurte eingebaut.

Wir sind zu zweit. Meine Freundin Monika und ich. Unser Ziel ist Afghanistan oder Nepal oder vielleicht auch das nach blutigen Kämpfen gerade erst unabhängig gewordene Bangladesch. Ja, und dann sind wir plötzlich zu dritt. Michelle ist jetzt bei uns. Sie kommt aus dem Norden Londons und ist in unserem Alter. Und sie sieht toll aus!

Wie viele junge Durchreisende wohnen wir im Hotel Amir Kabir, mitten in Teheran. Seit ein oder zwei Jahren ist das Haus eine der wichtigsten Stationen auf dem „Hippie-Trail“ zwischen Mitteleuropa und den Sehnsuchtszielen in Afghanistan und rund um Indien. Je nach Zimmer kostet die Übernachtung zwischen zwei und vier Dollar und das Essen ist großartig! So unpersisch…

Die Reise von Berlin und wieder dorthin zurück soll ungefähr sechs Monate dauern. Auf drei Wegen finanzieren wir das ganze Projekt – wobei wir denken, dass die gesamten Kosten höchstens knapp fünfstellig werden dürfen. Rund 10.000 Mark, mehr soll es nicht werden. Den größten Teil des Geldes haben wir gespart und mit Extraschichten zusammengejobbt. Wichtige Industriebetriebe in Berlin haben wir angeschrieben und um Unterstützung durch ihre Produkte gebeten. Alles, was wir kostenlos bekommen, müssen wir nicht kaufen. So haben wir Berge von Puddingpulver, Trockennahrung, Nudeln und Schokoriegeln im Kofferraum. Dazu fast 40 Kilogramm Butterkekse und hochwertiges Motoröl für die gesamte Reise. Die dritte Geldquelle ist eine kleine Berliner Regionalzeitung, das „Spandauer Volksblatt“. Hagmut Brockmann, der Chef der Kulturredaktion, war von unserem Vorhaben so beeindruckt, dass er versprach, für uns in jeder Sonntagsausgabe eine ganze Seite zu reservieren. Brockmanns einzige Bedingung: ‚Wie ihr Text und Fotos in die Redaktion bekommt, ist euer Problem.‘ Bezahlt wurde regelmäßig auf mein Konto in Deutschland. Und so liegt auch noch eine alte Reiseschreibmaschine im Kofferraum. Das Übermitteln der Texte per Brief, Telex oder Telefondiktat hat bisher gut geklappt. Filme schicken wir per Post oder per Luftfracht unentwickelt nach Berlin.

Imam Raza Schrein in Mashhad

Michelle aus dem Hotel „Amir Kabir“ ist schon ein paar Tage hier und will weiter nach Kabul. Erst mal. Wir drei kommen auf Anhieb gut miteinander aus. Eilig hat es niemand von uns und ein Tagestrip zum Kaspischen Meer mit herrlich warmem Badewasser und dem menschenleeren Strand endet mit heftigem Geknutsche im sonnenwarmen Sand. Heiß ist es und feucht und wild und Schweiß auf der Haut zu fühlen ist herrlich, bis die Steine kommen, die plötzlich aus den Dünen heraus auf uns geworfen werden. Es bleibt nur die hektische Flucht und die schmerzhafte Erinnerung daran, dass wir, trotz aller weltlichen und westlichen Bekenntnisse des Schahs, hier in einem streng islamischen Land sind. Wie bescheuert bin ich denn?

Drei Tage bis Mashhad, ein weiterer Tag bis zur afghanischen Grenze. Michelle will fahren, gesteht aber, dass sie bisher nur auf der linken Straßenseite gefahren ist. Geht ganz gut. Zwischen Mashhad und der Grenze ist kaum Verkehr und sie hält sich brav rechts. Eigentlich bin ich immer nervös, wenn ich in einem Auto sitze, das ich nicht selbst fahre. Jetzt gerade nicht. Ob es ihre Augen sind? Oh Mann, diese Frau macht Herzklopfen. In jeder Beziehung.

Später Nachmittag an der Grenzstation Islam Qala. Ausreise-Passkontrolle bei den Iranern, ein paar Hundert Meter zur Grenzstation der Afghanen. Danach sind es nur noch gut 100 Kilometer bis zur Stadt Herat, einem Hotelzimmer mit Dusche und einem eiskalten Getränk. Doch alle Türen an der Grenze sind verrammelt, kein Mensch in Uniform weit und breit. Keine afghanische Pass- und Zollkontrolle. Eine Stunde Zeitunterschied zwischen dem Iran und Afghanistan und das Land vor uns ist sozusagen geschlossen. Dutzende, vielleicht über 100 Fahrzeuge warten auf ihre Abfertigung. Für mich eine gute Gelegenheit, die Schreibmaschine auszupacken und wieder einen Bericht für die Zeitung in Berlin zu schreiben.



Insgesamt werden etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien.
Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten.
Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de (bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!)



Auf wechselnden, miteinander verwobenen Zeitebenen schildere ich in rund 60 Kapiteln meine Erlebnisse in dem Land am Hindukusch von 1973 und dem Sturz des Königs, über die Zeit unter dem Taliban-Regime bis in die Zeit der westlichen Militäreinsätze und der versuchten Demokratisierung.

Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister.

Ich schildere meine persönlichen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land.

Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

Ob das letzte Kapitel jemals fertig werden wird, ist fraglich. Eigentlich sollte ich wieder in Kabul unterrichten, doch die Sicherheitslage ist dermaßen schlecht, dass meine Auftraggeber mich voraussichtlich nicht ins Land holen werden. „Deutscher Medientrainer von Taliban ermordet“ wäre für alle Beteiligten eine katastrophale Schlagzeile.

Dieter Herrmann

Leave a Reply