März 2001 – Reisegenehmigung für den Trip nach Mazar-E-Sharif So also sieht das berühmte Hotel Intercontinental jetzt aus. Nach wie vor ein hässlicher Betonklotz auf einem Hügel südlich der Innenstadt Kabuls. Die Fassade ist voller Narben des Krieges. Kleine Löcher von Gewehrmunition, größere von leichter Artillerie, abgerissene Balkone durch Raketen oder Mörserbeschuss. Der große Swimming-Pool
März 2001 – Reisegenehmigung für den Trip nach Mazar-E-Sharif
So also sieht das berühmte Hotel Intercontinental jetzt aus. Nach wie vor ein hässlicher Betonklotz auf einem Hügel südlich der Innenstadt Kabuls. Die Fassade ist voller Narben des Krieges. Kleine Löcher von Gewehrmunition, größere von leichter Artillerie, abgerissene Balkone durch Raketen oder Mörserbeschuss. Der große Swimming-Pool ist leer, die hellblauen Fliesen zerbrochen oder abgefallen.
Ali, unser Fahrer für die nächsten Tage, hat uns hierher gebracht. Abdul, der Mann vom Hotel, der uns schon im Außenministerium vorgestellt wurde, war mit eigenem Auto vorausgefahren. Mustafa, Dolmetscher und vermutlich auch Aufpasser, Spion und Bremser, ist selbstverständlich bei uns und hat den Auftrag, permanent in der Nähe zu sein.
In der Lobby ein fleckiger, dunkelgrüner Teppich mit riesigen Brandlöchern. Es scheint keinen Strom zu geben, die Rezeption liegt im Halbdunkel. Unsere Pässe und die frisch ausgestellten Presseausweise werden begutachtet, die Daten von Hand auf eine Art Karteikarte übertragen. Die beiden Männer hinter dem Tresen haben dicke, wattierte Jacken an. Es ist bitterkalt und das Feuer im Kamin am Ende der Lobby schafft es natürlich nicht, den riesigen Raum zu erwärmen. Kay und ich bekommen jeweils ein Einzelzimmer und einen Zettel mit der Zimmernummer. Schlüssel gibt es nicht. Ein paar Minuten Geduld sollen wir noch haben, bis wir auf die Zimmer können. Ein Junge bringt uns in die Nähe des Kamins, kommt wenige Minuten später mit heißem Grünen Tee zurück. In einer Nische zu unserer Rechten sitzen fünf Männer in dunkelgrauen, traditionellen Kleidern, den obligatorischen Turban auf den Köpfen und die Kalaschnikow zwischen den Knien.
Von draußen ist das Geräusch eines Dieselmotors zu hören und dann wird es hell. Der Generator ist in Betrieb. Jetzt haben wir nicht einmal mehr die Chance, unseren Tee auszutrinken. Mustafa und ein Mensch in Hoteluniform holen uns ab, bringen uns und unser Gepäck zum Fahrstuhl neben der Rezeption. Scharrend schließen sich die Türen des Lifts und mit leisem Summen werden wir in die dritte Etage transportiert. Ein langer Korridor, links und rechts die Zimmertüren – wie in fast jedem Hotel der Welt. Etliche der Türen stehen offen, manche sind aus den Angeln gerissen. Steckdosen hängen lose an den Kabeln aus der Wand. Die Auslassgitter der Klimaanlage an der Decke fehlen. Zimmer 315 und 317, unmittelbar nebeneinander, sind für uns.
Aus meinem Zimmer könnte es einen herrlichen Blick über Kabul geben. Wäre da nicht diese trübe Plastikfolie. Fensterscheiben gibt es nämlich nicht mehr. Die Folie flattert im Wind. Bei Kay sieht es deutlich besser aus. Er hat Fensterscheiben – dafür fehlt die Toilettenschüssel in seinem Badezimmer. In beiden Räumen steht ein elektrischer Heizstrahler, der mich an die Heizsonnen erinnert, die in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in vielen Badezimmern zu finden waren. Mit Übersetzungshilfe von Mustafa erklärt der Hoteldiener, dass es jeden Morgen und jeden Abend für jeweils zwei Stunden Strom geben würde, dass das Restaurant im Erdgeschoss durchgehend geöffnet sei und dass unsere Zimmer eine Zwischentür hätten, so dass Kay meine Toilette benutzen könne. Regelmäßig Strom zu haben ist schon mal gut – schließlich müssen die Akkus der Kamera immer wieder geladen werden. Und wenn ich an die Arbeit in Somalia oder im Irak denke, so haben wir durchaus schon schlechter und kälter gewohnt.
Ich nehme ein paar Sachen aus meinem Gepäck, Kay kümmert sich darum, dass die Akkus vorsichtshalber noch mal ins Ladegerät kommen und dann ist erst mal Ausruhen angesagt. Mustafa verspricht, unten in der Lobby zu sitzen und uns jederzeit zur Verfügung zu stehen. „Abendessen um sechs“, vereinbaren wir.
Das Restaurant ist tatsächlich geöffnet. Auch hier brennt ein Kaminfeuer. Mustafa besteht darauf, in der Lobby sitzen zu bleiben. Unsere Einladung zum Abendessen lehnt er strikt ab. Kaum haben wir in der Nähe des Kamins Platz genommen, legt der mit viel Goldbrokat geschmückte Kellner uns die Speisekarte auf den Tisch. Nicht schlecht, die Auswahl! Alle Preise sind in US-Dollar angegeben. Verschiedene Hamburger für drei bis sechs Dollar, Pizza zwischen fünf und acht Dollar, Steaks, Filet vom Huhn, Suppen, Salate. Das teuerste Gericht (Filetsteak mit Pommes und Pfeffersoße) soll 12 Dollar kosten. Ich möchte Hühnerfilet und einen Salat, Kay entscheidet sich für die Pizza mit Meeresfrüchten. Durch unsere Wünsche entwickelt sich eine minutenlange Diskussion mit dem Kellner: „Sir, I’ll have the chicken breast and the garden salad please“, Kay bittet um seine Pizza. „Oh, es tut mir sehr leid meine Herren, heute haben wir weder Huhn noch die Pizza mit Meeresfrüchten.“ Na gut, kann ja mal vorkommen – vor allem in Zeiten wie diesen. Wir entscheiden uns beide für ein Steak und dazu gemischten Salat. „Ich bedaure, Steak ist heute nicht vorrätig.“ Na gut, dann eben Hamburger. „Sorry sir, die Küche kann heute keine Hamburger machen.“ Ja, aber was gibt es denn heute aus der Küche? „Wir haben heute Qabuli Pilaw – und leider auch keinen Salat.“ Und was noch? Sonst nichts.
Na gut, dann eben Qabuli Pilaw. Das ist so etwas wie das afghanische Nationalgericht. Gedünstetes Lammfleisch mit Reis, Karotten und Rosinen. Manchmal auch zusätzlich mit gehackten Nüssen. Als Getränk bestelle ich mir ein Mineralwasser, Kay möchte Fruchtsaft. Das Pilaw kommt schon nach zwei oder drei Minuten. Dazu zwei Dosen Cola. Mit den Dosen die Entschuldigung. Heute gäbe es nur Cola, morgen vielleicht wieder etwas anderes. Das Essen ist dann wirklich lecker und sehr, sehr reichlich. Die Nacht wird unruhig, mein Plastikfolienfenster knattert im auffrischenden Wind.
Wir möchten in den Norden des Landes, nach Mazar-E-Sharif, Hauptstadt der Provinz Balkh und nur rund 50 Kilometer vor der Grenze zu Usbekistan. Die Stadt wurde von den Taliban erst zwei Jahre nachdem sie Kabul erobert hatten eingenommen. Jetzt gilt sie den Islamisten als „modernes Aushängeschild“ und als islamisches Heiligtum. Dort würden wir gerne drehen, um den Zuschauern die Situation schildern zu können. Wir informieren Mustafa, unseren Dauerbegleiter, über unsere Wünsche. „Müssen wir im Ministerium beantragen.“ Ist seine knappe Antwort. Überhaupt sieht er total frisch und ausgeschlafen aus. Ob er die Nacht in der Lobby verbracht hat oder nach Hause durfte? Vielleicht hat ja auch er ein Zimmer im Hotel.
Nach dem Frühstück, diesmal mit Mustafa, also wieder zum Ministerium. Fahrer Ali wartet schon auf dem Parkplatz des Hotels. Wie machen die das? Es gibt kein Telefon in Kabul. In der Informationsabteilung des Ministeriums sitzt wieder der Leiter der Abteilung. Heute in einem weiten, wallenden Gewand. „Nach Mazar-E-Sharif wollt ihr also?“ „Ja, sehr gerne würden wir morgen früh losfahren. Mit einer Übernachtung unterwegs könnten wir dann einen Tag später am Ziel sein.“ Seine Antwort kommt, wie aus der Pistole geschossen: „Nein, das ist nicht möglich!“ Mustafa und der Amtsleiter besprechen irgendetwas auf Dari. Ich verstehe nur die Worte „Mazar“ und „Ariana“. Dann entschuldigt sich der Chef und verschwindet in einem Nebenraum.
Nach wenigen Minuten taucht er wieder auf. „Nein, ihr könnt dort nicht hinfahren. Aber es wäre möglich, dass ihr von Kabul nach Mazar-E-Sharif fliegt.“ Schade, denke ich mir, vor knapp 30 Jahren bin ich die Strecke über den fast 4.000 Meter hohen Salang-Pass und durch den Tunnel schon einmal gefahren. Es war ein spannendes Abenteuer. Gerne würde ich dort noch einmal unterwegs sein. Ich möchte wissen, warum wir nicht fahren dürfen. „Weil es nicht erlaubt ist“, wird mir beschieden. Ein paar Minuten Bedenkzeit und dann erkläre ich mich mit dem Flug in Richtung Norden einverstanden. Am späten Nachmittag, so heißt es, sollen wir im Büro der staatlichen Fluggesellschaft ARIANA die Tickets für Mustafa, Kay und mich abholen.
Die Flugscheine gibt es ausschließlich im Ariana-Gebäude, mitten in der Stadt. Nicht bei Reisebüros und auch nicht am Flughafen. Als Ausländer müssen wir in US-Dollar bezahlen. Von Kabul nach Mazar-E-Sharif und zurück sind das knapp 100 Dollar. Könnte schlimmer kommen… Ausgestellt wird ein klassisches Flugticket mit etlichen Durchschriften und per Hand ausgefüllt. Wie sollte man auch ein elektronisches Ticket ausstellen, wenn es weder einen Computer noch regelmäßig Strom gibt.
In dem Raum, in dem die Flugscheine ausgestellt werden, stehen 12 Schreibtische, dahinter ausschließlich Männer. Es ist viel Betrieb, obwohl die ARIANA nur vier Strecken in Afghanistan bedient und nicht mehr ins Ausland fliegt. Unser „Sachbearbeiter“ lässt sich Pässe und Presseausweise vorlegen und kassiert selbst das Geld. Sozusagen alles aus einer Hand. Zum Abschluss der Prozedur, als alle drei Tickets fertig ausgefüllt sind, greift der Airline-Mitarbeiter zu einem dicken Filzstift, dreht die drei Tickets um, so dass die Rückseite vor ihm liegt und malt eine breite, schwarze Schlangenlinie über das Bild auf der Hinterseite des Flugscheins.
Draußen vor der Tür natürlich die erste Frage an Mustafa, unseren Betreuer und Bewacher: „Was war das denn mit dem Filzschreiber?“ Der Dolmetscher zögert ein wenig und erklärt dann: „Also, auf dem Foto ist ja eine der Buddhastatuen von Bamiyan zu sehen. Die sind ja nicht nur ein Abbild des Menschen sondern auch unislamisch. Also, die müssen eigentlich völlig unkenntlich gemacht werden.“
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 7. Januar 2020 unter dem Titel „März 2001 – Ein klarer Verstoß gegen das Gesetz“ Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]