März 2001 – Ein klarer Verstoß gegen das Gesetz Der Flug nach Mazar-E-Sharif geht am frühen Morgen. Um sieben Uhr sollen wir mit Tickets und Gepäck am Flughafen sein. Ali, unser offizieller Fahrer, holt Mustafa, Kay und mich vom Hotel ab. In den Norden kann er natürlich nicht mit, Mustafa sagt, es würde auch in
März 2001 – Ein klarer Verstoß gegen das Gesetz
Der Flug nach Mazar-E-Sharif geht am frühen Morgen. Um sieben Uhr sollen wir mit Tickets und Gepäck am Flughafen sein. Ali, unser offizieller Fahrer, holt Mustafa, Kay und mich vom Hotel ab. In den Norden kann er natürlich nicht mit, Mustafa sagt, es würde auch in Mazar-E-Sharif für einen Fahrer gesorgt sein. Zwei Nächte dürfen wir dort oben bleiben, dann werden wir wieder in Kabul erwartet. Sagt die Pressestelle des Außenministeriums.
Das Gepäck tragen wir selbst zum Flugzeug, die Tickets werden erst an der Treppe in die Kabine kontrolliert. Nach Pässen oder anderen Ausweisen fragt niemand. Eine Sicherheitskontrolle findet nicht statt. Unser Flugzeug ist eine betagte Antonow AN-24. Eine Propellermaschine, die in den späten fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Ukraine entwickelt wurde. Bei meiner Arbeit in Somalia hatte ich diesen Flugzeugtyp schon ausführlich kennen gelernt. Flugzeuge dieses Typs hatte die staatliche ARIANA in der Zeit der sowjetischen Besetzung beschafft. Rund Fünfzig Passagiere haben Platz – die Maschine ist nicht ganz ausgebucht. In der offenen Cockpittür steht einer der Piloten. Ein mächtiger Bart bekleidet sein Gesicht. Äußerst ungewöhnlich bei professionellen Piloten, denn die Sauerstoffmaske, die sie im Notfall anlegen müssten, würde niemals dicht mit der Gesichtshaut abschließen.
Natürlich spreche ich ihn darauf an: „Sir, what do you do in case you have to use your oxygen?“ Prompt kommt die Gegenfrage: „Are you a pilot?“ Ja, war ich. „Es ist ganz einfach sir, wir sterben und alle Passagiere an Bord auch, denn wir dürfen uns nicht mehr rasieren – die Maske nutzt mit den vielen Haaren im Gesicht aber gar nichts.“ Noch jemand, der vom Bartzwang nicht wirklich begeistert ist.
Es gibt natürlich zwei Piloten und es gibt auch einen Steward. Nach dem völlig normalen Start in Kabul kommt er durch die Reihen und verteilt Cola in Dosen. Was sonst? Wie üblich, ist es über dem Hindukusch etwas unruhig, doch der gesamte Flug dauert nur eine knappe Stunde. Mitten auf einem Hochplateau ist plötzlich die Landebahn zu sehen. Einmal wird sie überflogen – vielleicht um ein paar Ziegen zu verscheuchen, dann die Landung.
Hier ist es richtig kalt. Während wir darauf warten, dass unser Gepäck aus dem Laderaum auf eine Karre geladen wird, schlage ich mir den Kragen hoch und versuche, dem schneidenden Wind zu trotzen. Kay und ich nehmen je eine Alu-Kiste, Mustafa trägt das in einem Köcher verpackte Stativ. Donnerwetter, denke ich mir, eigentlich ist er doch vor allem unser Aufpasser… An der Baracke, die hier das Flughafen-Terminal ist, wartet ein dunkelgrüner Geländewagen auf uns. Es ist ein in Russland gebauter UAZ-Tundra, vielleicht noch aus der sowjetischen Besatzungszeit übrig geblieben. Ich glaube, ich habe noch kein anderes Auto erlebt, bei dem die Federung so hart ist. Ich bin nicht einmal sicher, dass die Achsen überhaupt gefedert sind. Vielleicht sind es ausschließlich unsere Bandscheiben, die die harten Stöße abfangen müssen. Das also ist unser Auto mit Fahrer hier in Mazar-E-Sharif. Es sind nur ein paar Kilometer bis ins Stadtzentrum. Dicht an dicht stehen und liegen Wracks von Militärfahrzeugen neben der Fahrbahn. Noch bis ins Jahr 1998 gab es hier blutige Gefechte zwischen den Truppen von Shah Masoud, dem Chef der Nordallianz und den Kriegern der Taliban. Jetzt, so versichert Mustafa uns, ist alles fest unter der Kontrolle der Regierung des Islamischen Emirates Afghanistan. Den Taliban also. „Und natürlich,“ so unser Aufpasser, Dolmetscher und Stativträger, „gelten hier die selben Gesetze wie in Kabul.“
Wir sind in einem winzigen Hotel in der Stadtmitte untergebracht. Irgendwie erscheint es mir, als sei die Stadt in heller Aufregung. Reiter auf geschmückten Pferden traben durch die Straßen, Männergruppen stehen zusammen, laut palavernd und aus den Teehäusern ist laute Musik zu hören. Musik? Moment! Das ist doch verboten!
Mustafa muss erklären, kann es aber nicht. Hat keine Ahnung, was hier vorgeht. Ein kurzes Gespräch mit einem anderen Mann im Hotel klärt alles auf. Morgen finden hier Meisterschaften im Buzkashi statt. Ein wildes Spiel, bei dem ein paar Reiter Jagd auf den Balg einer Ziege machen. Auch ein Spiel, das von der Regierung schon 1996 verboten wurde. In den Taliban-Gesetzen heißt es ganz klar „Jegliche Form von Spiel oder Sport in der Öffentlichkeit ist nicht erlaubt“. Mustafa kann es noch immer nicht erklären.
Nach dem Mittagessen werden wir von Sami, einem Vertreter des Bürgermeisters abgeholt. Keine Ahnung, wer das organisiert hat. Der Mann ist freundlich und sehr entspannt und er spricht ganz gut Englisch. Wir würden gern mit ihm zu einem der Lager gehen, in dem ein großer Teil der Bevölkerung noch immer leben muss. Fast zwei Drittel der Stadt wurden in den Gefechten zwischen Nordallianz und Taliban zerstört. Bisher ist nur ein Bruchteil davon wieder aufgebaut. Im Lager könnte es zum ersten Mal brenzlig werden für uns. Natürlich wollen wir nicht nur das Lager drehen sondern auch mit dem Leuten sprechen, ein paar Interviews machen. Das Filmen und Fotografieren von Lebewesen ist bekanntlich bei Strafe verboten.
Der Abgesandte der Stadtregierung führt uns durch eines der Lager, spricht hin und wieder mit ein paar Leuten. An zentral angebrachten Pumpen füllen Frauen ihre Wasserkanister, kleine Kioske bieten Teeblätter, Gemüse, Cola und Kekse an. Ein großer, grauhaariger Mann mit einem blitzenden Goldzahn kommt uns entgegen. Sami stellt ihn vor. Es ist Reza, der Chef dieses Camps. Ein riesiger Kerl mit Händen wie Baggerschaufeln und anscheinend nett und freundlich. Über Mustafa fragen wir ihn, ob wir mit ihm ein kurzes Interview machen dürfen. Mustafa aber übersetzt nicht, sondern spricht statt dessen auf Dari mit Sami. Dann verschwindet unser Aufpasser plötzlich im Gewimmel der Menschen.
Der Bürgermeistervertreter bittet uns, die Fragen zu stellen. Kay ist drehbereit, ich frage auf Englisch, Sami übersetzt, Reza antwortet auf Dari und Sami übersetzt zurück. Das geht sehr gut. Dann gibt es plötzlich etwas Aufregung. Zwei Polizisten in Uniform stürmen auf unsere Gruppe zu, fuchteln mit ihren Stöcken und lärmen mit ihren Trillerpfeifen.
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 21. Januar 2020 unter dem Titel „März 2001 – Verbotener Streit um einen toten Ziegenbock“ Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]