März 2001 – Verbotener Streit um einen toten Ziegenbock Sami, der Mann vom Rathaus sieht die Polizisten kommen und geht ruhig auf sie zu. Die beiden Uniformierten rufen, gestikulieren und deuten immer wieder auf unsere Kamera. Sami lächelt sie an, spricht ein paar freundliche klingende Worte mit ihnen und beide drehen wieder ab, laufen weiter
März 2001 – Verbotener Streit um einen toten Ziegenbock
Sami, der Mann vom Rathaus sieht die Polizisten kommen und geht ruhig auf sie zu. Die beiden Uniformierten rufen, gestikulieren und deuten immer wieder auf unsere Kamera. Sami lächelt sie an, spricht ein paar freundliche klingende Worte mit ihnen und beide drehen wieder ab, laufen weiter durch das Lager. „Die haben gedacht, wir würden hier Menschen filmen oder irgendetwas anders Verbotenes tun,“ lacht der Vertreter des Bürgermeisters, „ich habe ihnen erklärt, dass alles in Ordnung ist. Trotzdem sollen wir uns beeilen und innerhalb der nächsten Viertelstunde hier verschwinden.“ Was für ein sympathisches Schlitzohr! Der wusste genau, wie er seine Macht gegenüber den Polizisten einsetzten konnte.
Nach zehn Minuten haben wir alles auf Videoband, was wir haben wollten und sind wieder unterwegs. Sami zeigt uns „sein“ Mazar-E-Sharif. Wunderschöne alte Häuser, eine Karawanserei, verschwiegene Plätze und ein Teehaus, in dem Musik gespielt und getanzt wird. Nun muss ich ihn einfach fragen, wie unsere Filmerei, die Fröhlichkeit vieler Menschen und die Musik und der Tanz sich mit den Gesetzen der Regierung vertragen. Auch die Provinz hier im Norden wird doch von den Taliban regiert. „Ach, das ist einfach,“ beginnt der Mann vom Bürgermeisteramt, „hier oben waren wir schon immer liberaler als die im Süden, vor allem liberaler als die Paschtunen. Natürlich sind wir jetzt ein Teil von Taliban-Afghanistan, die Nordallianz hat schließlich die Kämpfe verloren, so richtig ernst nimmt die Gotteskrieger hier oben kaum jemand“.
Mustafa, unserem Wachhund, müssten sich die Haare sträuben, er lässt sich nichts anmerken. Und dann fragt Sami mich noch, ob ich wüsste, warum wir nicht mit dem Auto von Kabul hierher fahren durften. „Nein, sag es mir bitte!“ „Das ist ganz einfach“, erklärt er, „auf der Strecke zwischen Kabul und dem Norden unseres Landes gibt es noch immer Gebiete, die nicht von den Taliban kontrolliert werden. Vor allem rings um den Salang-Pass sollen noch Hunderte von Kämpfern der Nordallianz unterwegs sein“. Am Abend sind wir mit Sami bei seiner Familie. Ein interessanter Abend mit vielen Geschichten vom Stellvertreter des Bürgermeisters.
Sami holt uns in aller Herrgottsfrühe ab. Kurz nach Sonnenaufgang beginnen die Buzkashi-Meisterschaften. Es gibt sogar so etwas wie ein Stadion. Extra für die wilde Hetzjagd auf dem Rücken der Pferde. Buzkashi ist im Norden Afghanistans ebenso Volkssport wie in Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan. Das Spiel wird manchmal von mehr als 20 Spielern gespielt, angeblich soll bei der Zahl der Teilnehmer nach oben keine Grenze sein. Zu Beginn des Spiels wird eine tote Ziege oder ein ausgestopfter Ziegenbalg mitten auf das Spielfeld gelegt. Dieser Kadaver soll im Galopp aufgenommen und vor dem Preisrichter abgelegt werden. Es spielt jeder gegen jeden, was die Kämpfe wild und unberechenbar macht. Alles ist erlaubt, um an die Ziege zu kommen. Hier soll es also heute hoch her gehen – und das, obwohl auch diese Sportart von der Regierung ausdrücklich verboten wurde.
Es wird hoffentlich ein warmer Tag. Im März kann es hier oben auch tagsüber manchmal noch ziemlich kalt sein. In der Nacht gab es kein Strom, die Akkus für unsere Kamera konnten nicht geladen werden. Ein paar volle haben wir noch, die anderen wollen wir während der Fahrt an unser Autoladegerät anschließen. Doch daraus wird nichts, der russische Jeep hat weder eine Autosteckdose noch einen Zigarettenanzünder. Hoffentlich reichen die Akkus, die wir noch haben…
Ein richtiges Stadion ist das Buzkashi-Feld nicht. Mehr ein großer Sandplatz mit grasbewachsenen Hügeln drumherum. Diese kleinen grünen Buckel sind sozusagen die Zuschauertribünen. Gleich neben dem Spielfeld zerschossene Militärfahrzeuge. Etwas entfernt ein umgekippter Panzer und die Reste eines abgestürzten oder abgeschossenen Kampfflugzeuges. Eine der „Tribünen“ scheint für Prominente reserviert zu sein. Sami drängelt sich durch die Menschenmenge mit Mustafa, Kay und mir im Schlepptau. Es sind bestimmt weit über 1.000 Leute, die gekommen sind. Die Zahl der Frauen kann man an beiden Händen abzählen – und davon stehen die meisten auf dem „VIP-Hügel“. Zwei der Damen, beide vorschriftsmäßig mit einer Burka bekleidet, haben Klappstühle mitgebracht. Für mich ist es verwirrend: gesetzlich vorgeschriebene Kleidung bei einer ganz und gar ungesetzlichen Veranstaltung. Wie funktioniert das alles nur? Knapp neben den beiden Campingstühlen bauen wir unsere Kamera auf. Perfekter Überblick über das ganze Spielfeld.
Langsam fangen die Sonnenstrahlen an, etwas Wärme zu verbreiten. Die Menge ist ziemlich aufgeregt. Eine Buzkashi-Meisterschaft hat hier in den westlichen Ausläufern des Himalaya ungefähr den gleichen Stellenwert, wie die wichtigsten Spiele der Bundesliga in Deutschland. Hinter den Zuschauern eine Vielzahl kleiner Feuer, auf denen Tee gekocht und Brot erwärmt wird. Es dauert nur noch gut zehn Minuten und es geht los. Unter lauten Beifallsrufen wird der Ziegenbalg in der Mitte des Feldes abgelegt. Nur wenige Sekunden später galoppieren die Reiter in den Ring, fangen an, um die Ziege zu kämpfen. Die Männer auf den Gras-Tribünen feuern ihren Favoriten an. Der ausgestopfte Ziegenbalg wechselt den Besitzer im Minutenabstand. Es ist faszinierend zu sehen, wie perfekt die Pferde auf die Kommandos ihrer Reiter reagieren. Hin und wieder prallen zwei der Tiere aneinander, ohne dass es deswegen eine Unterbrechung geben würde. Ein Reiter ist so im Schwung, dass er auf seinem Tier einen der Zuschauer-Hügel hinaufgaloppiert. Zwei Männer werden vom Pferd umgerissen, ein paar Dutzend brüllen wilde Flüche. Oder sind es Rufe der Anerkennung für Pferd und Reiter? Immer wieder sehe ich, dass Kämpfer in ihrer bunten, wehenden Kleidung sich an die Flanke ihres rasenden Pferdes hängen um nach dem Ziegenkadaver zu greifen. Einer der Reiter schafft es unter dem Bauch seines galoppierenden Tiers hindurch auf die andere Seite des Pferdes. Ein Trick, mit dem er den umkämpften Ziegenrest tatsächlich erwischt. Nicht für lange.
Mit kurzen Pausen kämpfen die Buzkashi-Reiter stundenlang. Der Ziegenbalg muss mehrmals ausgetauscht werden, da er zwischendurch zerfleddert. Kurz nach der Mittagszeit, die Sonne hat uns alle inzwischen angenehm durchwärmt, steht der Sieger fest. Zu seinen Ehren wird an Ort und Stelle ein stattlicher Hammel geschlachtet. Mitten auf dem Spielfeld macht das nach islamischen Vorschriften getötete Tier in einer Lache seines Blutes die letzten Zuckungen. Sami erzählt mir, dass die Tradition es so will, dass der Gewinner der Meisterschaft einen Teil des Fleisches an Reiter, die ihn heimlich unterstützt haben, abgibt.
Zum Abziehen des Fells wird die Haut an einem Bein des Schafes so eingeschnitten, dass eine Art Strohhalm zwischen Fell und Fleisch geschoben werden kann. Mit viel Lungenkraft bläst der neue Besitzer des Tieres jetzt Luft unter die Haut, bis die sich nach und nach vom Fleisch löst. Das Schaf ist nun aufgeblasen, wie ein überdimensionaler Fell-Ballon. Ein paar weitere geschickte Schnitte an den Beinen und am Schwanz und das Fell lässt sich dem noch warmen Tier leicht über den Kopf ziehen.
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 4. Februar 2020 unter dem Titel „März 2001 – Offizielle Einladung zum Besuch der Buddha-Statuen“ Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]