März 2001 – 12 Stunden im Auto für 150 Kilometer Kaum zurück in Kabul, beantragen wir eine neue Reisegenehmigung. Wir wollen nach Kandahar, etwas weniger als 500 Straßenkilometer südwestlich der Hauptstadt. Dort unten arbeiten zwei deutsche Frauen in einem Projekt der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“. Eine der beiden ist Ärztin am städtischen Krankenhaus. Die andere
März 2001 – 12 Stunden im Auto für 150 Kilometer
Kaum zurück in Kabul, beantragen wir eine neue Reisegenehmigung. Wir wollen nach Kandahar, etwas weniger als 500 Straßenkilometer südwestlich der Hauptstadt. Dort unten arbeiten zwei deutsche Frauen in einem Projekt der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“. Eine der beiden ist Ärztin am städtischen Krankenhaus. Die andere ist Krankenschwester und versucht wohl, eine Impfkampagne gegen Masern auf die Beine zu stellen. Mustafa, unser Dolmetscher und Aufpasser, stellt den Reiseantrag für uns beim Taliban-Ministerium. Allerdings erlaubt man uns nicht, gleich morgen früh in Richtung Kandahar zu starten. Abfahrt erst übermorgen, da „noch etwas organisiert werden muss“. Auch ein Hotel will man für uns reservieren. Vor allem aber müssen wohl die Behörden in Kandahar informiert werden. Da es in Afghanistan kein festes Telefonnetz mehr gibt und natürlich auch kein Handynetz, kann zwischen Kabul und Kandahar eigentlich nur per Boten kommuniziert werden. Oder sollten die Taliban über Satellitentelefone verfügen und auch in der Lage sein, die immens hohen Gebühren zu bezahlen? Über den Transport gibt es dieses Mal keine Diskussionen. Wir sollen von Ali, unserem „amtlichen“ Chauffeur gefahren werden.
Ich freue mich auf Kandahar. Ich kenne es von früher und hatte ein paar einschneidende Erlebnisse in der Region.
Ich bin gespannt, ob es im Hotel heute etwas anderes als Qabuli Pilaw geben wird. Hunger habe ich jedenfalls jede Menge. Ali setzt uns am Intercontinental ab, Mustafa bleibt wieder in der Lobby, Kay und ich wollen auf unsere Zimmer. Es ist eisig kalt im Hotel, mal wieder gibt es keinen Strom und folglich auch keine Heizung. Der offene Kamin schafft es noch immer nicht, den riesigen Raum zu erwärmen. Ohne nachzudenken, streben wir mit unserer Ausrüstung auf den Fahrstuhl zu und werden kurz vorher von einem Hotelangestellten in bordeauxroter Uniform abgefangen. „No power – no lift,“ erklärt er. Und er hat natürlich Recht. „Come, I show you“, und mit einer Handbewegung fordert er uns auf, ihm zu folgen. Er trägt sogar das Stativ. Durch eine Seitentür und einen breiten Gang gelangen wir in die Hotelküche. Donnerwetter! Ich bin beeindruckt. Das Hotel ist jetzt mehr als 30 Jahre alt und hat etliche Kriege und Kämpfe erlebt. Die Hotelküche sieht noch immer aus, als wäre sie auf einem modernen Stand. An der Beschriftung der Herde, Dampfgarer, Schwenkpfannen, Warmhalteplatten und Kühlschränke ist deutlich zu sehen: All diese Geräte sind in dem Ort Gaggenau, in Baden-Württemberg hergestellt worden. Nur funktionieren sie leider nicht, da alle elektrisch betrieben werden. Auf einer der massiven Edelstahloberflächen sind Ziegelsteine zu einer Feuerstelle aufgebaut worden. Ein Holzfeuer brennt in dem Ziegel-Viereck. Oben, über den Flamme, ein Blechtopf mit Qabuli Pilaw. Das ist also jetzt die Hotelküche – und zwar vermutlich 24 Stunden am Tag, denn mit dem relativ kleinen Generator, den ich draußen gesehen habe, wird man diese energiehungrige Küche kaum betreiben können.
Ein ruhiger Tag folgt. Eingewickelt in Wolldecken sehen wir uns das Material an, das wir in Mazar-E-Sharif gedreht haben. Es sieht gut aus und im Rückblick sind wir dem selbstbewussten Sami vom Bürgermeisteramt sehr dankbar für die Unterstützung. Was „unser“ Mustafa für ein Typ ist – und wie er sich im Zweifelsfall verhalten wird – das ist Kay und mir noch immer ein Rätsel. Immerhin hat er bisher nicht interveniert, auch wenn wir ganz klar gegen Gesetze verstoßen haben. Vielleicht lernen wir ihn beim Trip nach Kandahar ja etwas besser kennen. Sein Vater war afghanischer Botschafter in Indien, so viel wissen wir inzwischen. Er selbst ist in Delhi zur Schule gegangen und hat folglich dort sein Englisch gelernt. Der Mann scheint außergewöhnlich gebildet zu sein – zum Thema Taliban hat er sich bisher nicht geäußert. Indien, das geht mir durch den Kopf, hat die Taliban öffentlich zu „Feinden“ erklärt. Pakistan hingegen scheint die militanten Islamisten massiv zu unterstützen.
Abfahrt nach Kandahar am Morgen um sechs. Deutlich vor der Zeit, zu der ich richtig wach werde. Kein Frühstück im Hotel, aber Ali, unser Fahrer, kam mit frischem, warmen Fladenbrot, bestreut mit geröstetem Sesam. Mustafa sitzt vorn, neben dem Fahrer und hat ein Papier, das unsere Reisegenehmigung sein soll. Stempel und Fingerabdrücke sind unten auf dem auf Paschtu handgeschriebenen Dokument. Vor der Abfahrt fragt unser Bewacher, ob wir Musikkassetten in unserem Gepäck haben. Die nämlich sind verboten und es könnte unterwegs Kontrollpunkte der Taliban-Polizei geben. Haben wir nicht. Zuerst geht es ein Stück in Richtung Westen und dann biegen wir nach Südwesten ab, auf die Straße, die schon seit Ewigkeiten als „Kabul-Ghazni-Highway“ bezeichnet wird. Nach kurzer Zeit müssen wir den Kabul-River überqueren. Die Brücke ist zu einem großen Teil zerstört. Eine schmale Spur für PKW steht zur Verfügung. Nur in einer Richtung. Lastwagen durchqueren den Fluss ein paar Dutzend Meter entfernt an einer Furt.
Kaum haben wir die Stadtgrenze von Kabul passiert, werden wir von ein paar wild aussehenden Typen angehalten. Einer von ihnen hat ein amerikanisches Sturmgewehr vom Typ M-16 über der Schulter. Eine Waffe, die schon seit den frühen sechziger Jahren in Gebrauch ist. Alle anderen haben die Kalaschnikow AK-47 umgehängt. Die Männer stehen unter einem fast kahlen Baum, der über und über mit Magnetbändern behängt ist, die offensichtlich aus Musikkassetten herausgezogen wurden. Ali hält an einem provisorisch aus einem alten Zaun aufgebauten Schlagbaum und öffnet sein Fester. Bevor einer der Bewaffneten etwas sagen kann, reicht Mustafa unsere Reisegenehmigung am Fahrer vorbei aus dem Fenster. Das scheint ein kleines Problem aufzuwerfen: es sieht aus, als könne der Mann, der neben unserem Auto steht, nicht lesen. „Das ist einer der Kontrollpunkte, an dem nach Musik- und Videokassetten gesucht wird“, flüstert Mustafa uns zu. Der Mensch mit unserem Reisepapier ist inzwischen zu den anderen Männern gegangen und einer von ihnen liest den Inhalt des Dokuments stockend vor. Dann wird unter dem Baum diskutiert. Nach ein paar Minuten kommt einer der Kalaschnikow-Träger zu uns, gibt die Reisegenehmigung zurück und sagt irgend etwas auf Paschtu. „Alles klar, wir können weiterfahren“, übersetzt unser Bewacher vom Beifahrersitz.
Die Straße wird von Kilometer zu Kilometer schlechter. Von „Highway“ kann hier wirklich nicht die Rede sein. Ganz offensichtlich sind die meisten Fahrbahnschäden durch Bomben, Minen und Granaten entstanden. Kleine Krater, tiefe Risse und komplett fehlender Asphaltbelag verlangen immer wieder Schrittgeschwindigkeit. Ein tiefer Riss geht quer über die Fahrbahn, wie eine Gletscherspalte oder ein Bruch nach einem Erdbeben. Der Straßenbelag sieht aus, als wäre er einfach um einen halben Meter auseinander gezogen worden. Dicke Holzbretter überbrücken den klaffenden Abgrund. Herzklopfen nicht nur bei mir, auch bei den drei anderen, während wir die Stelle überqueren. Wenn ich mich nicht grob verrechnet habe, dann haben wir die Strecke seit Kabul mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von ungefähr 15 bis 25 Kilometern pro Stunde zurückgelegt. Noch deutlich mehr als 400 Kilometer bis nach Kandahar liegen vor uns.
Weitere sieben oder acht Checkpoints im Laufe des Tages. Sie alle gleichen sich. Video- und Audiobänder flattern an Bäumen, auf der Straße und über den Schlagbäumen. Mehrere Kontrollpunkte sind dort eingerichtet, wo die Wracks von Militärfahrzeugen ohnehin einen Teil der Straße blockieren. Bei der letzten Kontrolle hat das Dokument, das Mustafa jedes Mal vorlegt, keinen Eindruck gemacht. Wir mussten aussteigen und das Fahrzeug wurde durchsucht. Unter den Sitzen, im Motorraum, hinter der Rücklehne, im Kofferraum. Die Kiste, in die wir unsere Videobänder zum Drehen eingepackt haben, wurde nicht geöffnet. Nach diesem letzten Checkpoint ist Ali offensichtlich sauer. Er schimpft wie ein Rohrspatz, nestelt irgendwo unter dem Armaturenbrett herum. Mustafa erklärt, er wäre sauer über „diese überflüssigen Kontrollen“. Nach ein paar Sekunden fördert Ali eine Musikkassette zu Tage. Rein in den Player und schon füllt fröhliche indische Musik das Fahrzeuginnere. Mustafa wippt mit dem Fuß, Ali trommelt auf das Lenkrad. Was ist hier los? Trauen die sich etwas? Wollen die uns testen? Beginnt hier die Anti-Taliban-Revolution? Wenige Minuten später wird die Musik wieder deutlich leiser gedreht und die beiden verabreden offensichtlich etwas für den Fall, dass plötzlich ein Checkpoint in Sicht kommt. Zwei Kontrollpunkte kommen noch, alles geht gut. Es ist dunkel, als wir Ghazni erreichen. Gerade 150 Kilometer haben wir geschafft, seitdem wir Kabul verlassen haben. Abgesehen von den Kontrollen, haben wir unterwegs zwei kurze Pausen gemacht. Hier werden wir übernachten.
Mustafa weiß, dass vom Ministerium hier Betten für uns reserviert worden sind. Er kennt den Namen des Hotels, weiß aber nicht, wo es ist, so dass Ali sich durchfragen muss. Inzwischen ist es stockdunkel. Strom scheint es nicht zu geben, hier und dort sind Petroleum- oder Gaslampen zu sehen. Am Straßenrand brennen etliche Feuer, doch zu sehen ist fast niemand mehr. Ghazni war seit Jahrhunderten eine Stadt der Kunst und Wissenschaft, die Dichter, Komponisten und Gelehrte hervorgebracht hat. Babrak Wassa, Dirigent und Chorleiter, lebt seit 1980 in Deutschland. Er ist einer von ihnen.
Es scheint, als habe Ali das Hotel gefunden. Wie er das gemacht hat, ist mir ein Rätsel. Es gibt kein Schild und vor der Tür nur zwei funzelige, blauschwarz blakende Petroleumlampen. Und wirklich kam heute im Laufe des Tages die Botschaft hier an, dass zwei ausländische Journalisten und zwei Begleiter hier übernachten werden. Der Zettel mit amtlich aussehendem Siegel liegt auf dem Tisch am Eingang. Der Wirt drückt uns einen Stapel Decken in die Arme und zeigt uns, mit einer Laterne in der Hand, den Weg. Es ist kalt und hier, in einer Höhe von über 2.200 Metern, könnte es in der Nacht durchaus Frost geben. Im Hof brennen Feuer und es duftet nach gebratenem Fleisch. „Essen in einer halben Stunde“, sagt der Wirt und führt uns in eine Art Schlafsaal. Die einzelnen „Zimmer“ haben etwa die Größe des Strohbündels, das auf dem Boden liegt und sind durch Tücher abgetrennt. Wenn das Stroh nicht allzu sehr mit kleinem Getier belebt ist, werde ich gut schlafen. Ich bin zum Umfallen müde.
Es gibt so etwas wie eine Toilette – eine Lehmhütte mit zwei Löchern im festgestampften Erdboden. Man könnte also im Duett kacken. Davor eine Petroleumlampe, die man vermutlich braucht, um das Loch treffen zu können. Davor eine Pumpe, aus der eiskaltes Wasser fließt. Zum Waschen – nicht zum Trinken, heißt es. Unter diesen Umständen ist die Abendhygiene schnell erledigt – und da ist ja auch der verlockende Geruch nach Gebratenem.
Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 3. März 2020 unter dem Titel „März 2001 – Ankunft in der Heimat von Mullah Omar“ Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]