März 2001 – Ankunft in der Heimat von Mullah Omar Gegrilltes Ziegenfleisch für alle. Im Innenhof, unter zwei Petroleumlampen und einer Fackel stehen zwei Männer am Grill. Ein sicher zwei Meter langer und nur 20 Zentimeter breiter Blechkasten, in dem Holzkohle vor sich hin glimmt. Darüber 30, 40 oder mehr eiserne Spieße mit Fleischstückchen, kaum

März 2001 – Ankunft in der Heimat von Mullah Omar

Gegrilltes Ziegenfleisch für alle. Im Innenhof, unter zwei Petroleumlampen und einer Fackel stehen zwei Männer am Grill. Ein sicher zwei Meter langer und nur 20 Zentimeter breiter Blechkasten, in dem Holzkohle vor sich hin glimmt. Darüber 30, 40 oder mehr eiserne Spieße mit Fleischstückchen, kaum größer als der Würfel aus einem Würfelspiel. Der eine scheint der Grillmeister zu sein. Er dreht die Spieße auf der Glut, einen nach dem anderen. Wenn er fertig ist, fängt er am anderen Ende des Grills wieder von vorne an. Der andere Mann sitzt neben drei Blechschalen und steckt die Brocken auf die spitzen Eisenstangen. Zwei Stücke Fleisch, ein Stück Fett, zwei Stücke Fleisch, ein Stück Leber, zwei Stücke Fleisch… Sicher zwanzig solcher Stückchen passen auf den Spieß. Dann schlägt der Gong. Na ja, ein richtiger Gong ist es nicht. Es ist einfach ein kurzes Ende von einem T-Träger, gegen den der Grillmeister mit dem Hammer schlägt.

Mann in Ghazni – Einzelbild aus Video

Von allen Seiten kommen die Hotelgäste und, soviel ich im trüben Licht der Laternen erkennen kann, sind es ziemlich viele. Die meisten scheinen den Ablauf schon zu kennen und schnell bildet sich eine Schlange. Ausschließlich Männer und vermutlich alle mit knurrenden Mägen. Von einem großen, runden Blechtablett nimmt jeder sich ein Fladenbrot. Der Grillmeister legt drei Spieße auf das Brot, in einer Schüssel liegen Zwiebelringe und ein Kraut, das vermutlich Koriander ist. Wasser gibt es aus einem großen Krug, ein paar Meter vom Grill entfernt.

Besteck gibt es natürlich nicht. Brauche ich auch nicht. Einfach ein Stück vom Brot abreißen. Damit streife ich, so wie es mir hier in Afghanistan schon oft vorgemacht wurde, ein oder zwei Bröckchen Fleisch vom Spieß, lege ein paar Kräuter und Zwiebeln in mein Brot, drücke und rolle es etwas zusammen. Der Fleischsaft zieht in das Brot ein und es ist wirklich lecker. Nur: wie soll ich nach so einem Tag von einem Fladenbrot und den paar Brocken Fleisch satt werden? Doch das „Problem“ löst sich sofort. Andere stellen sich gerade zum zweiten Mal an. Es gibt also Nachschlag. Für unsere Mägen ist gesorgt.

Die Nacht war kurz, als Mustafa mich um halb sechs weckt. Ich muss gut und fest geschlafen haben, kann mich nicht einmal an einen Traum erinnern. Wir haben es eilig. Noch immer sind es 350 Kilometer bis nach Kandahar, unserem Ziel. Schnell ein Glas Tee im Stehen und dann geht es schon los. Mustafa hat Brot und Schafskäse für uns alle mitgenommen, so dass wir während der Fahrt Frühstücken können. Die Straße ist jetzt etwas besser, doch das Überqueren der Flüsse und der ausgetrockneten Flusstäler bleibt problematisch. Keine einzige Brücke ist mehr befahrbar. Sie sehen aus, als wären sie nicht durch Bomben oder Granaten zerstört worden, sondern als hätte man sie fachmännisch von unten gesprengt. In den Furten haben sich durch die Lastwagen tiefe Spurrinnen gebildet. Für Autos wie unseren Toyota ein ernsthaftes Problem. Dort, wo es besonders schwierig ist, stehen Jugendliche bereit. Gegen Bargeld rücken sie in Zehnergruppen an und schieben und zerren die PKWs durch die seichten Flussläufe.

Auf der ganzen Strecke bis nach Kandahar passieren wir nur fünf Kontrollpunkte. Nur einer der „Taliban-Polizisten“ will ins Auto sehen. Die Musikkassette hatte Ali gut und rechtzeitig versteckt. Ein grausames Erlebnis hatten wir am letzten Checkpoint vor Kandahar. Wir standen nur ein paar Minuten. Unser offizielles Dokument konnte gelesen werden und wurde akzeptiert. Ein paar Meter entfernt wurde ein Autofahrer mit einem dünnen Stock verprügelt. Mustafa schnappt ein paar Brocken des Gebrülls auf. Der Mann hatte offenbar ein altes indisches Mode-Magazin mit Bildern von leicht bekleideten Frauen im Auto. Ich frage mich, was die Polizisten jetzt mit der beschlagnahmten Zeitung machen – und wo das Magazin wohl die Nacht verbringen wird.

Kandahar liegt vor uns und es erinnert mich absolut nichts an meinen Besuch hier vor fast 30 Jahren. Heute kommt mir die zweitgrößte Stadt Afghanistans trist und staubig vor. Dabei ist es inzwischen so etwas wie die „heimliche Hauptstadt“ von Afghanistan geworden. Ganz sicher ist Kandahar inzwischen das Zentrum der Taliban-Bewegung. Mullah Omar, Anführer der Taliban und derzeit als Emir auch Staatsoberhaupt Afghanistans, wurde in einem Dorf nur ein paar Kilometer nordwestlich von hier geboren.

Um diesen Mullah ranken sich unzählige Legenden. Belegt ist wenig. Geburtsort und Geburtsjahr (1960) sind gesichert. Auch, dass er im Kampf gegen die kommunistische Regierung während der Besatzungszeit durch die sowjetische Armee ein Auge verlor, ist bekannt. Mitte des Jahres 1994 soll er mit rund 30 Gleichgesinnten die Taliban-Bewegung gegründet haben. Dieser Gründung seien groß angelegte Rekrutierungen von Jugendlichen und Männern in pakistanischen Koranschulen und Flüchtlingslagern gefolgt. Innerhalb weniger Monate soll es gelungen sein, eine gut bewaffnete fundamentalistische Miliz aufzustellen. Von Kandahar aus leitete Mullah Omar den Kampf gegen die zerstrittene Regierung. Im September 1996 wurde Kabul eingenommen und der Staat „Islamisches Emirat Afghanistan“ ausgerufen.

Es ist spät und längst dunkel, als wir Kandahar erreichen. Ali scheint sich ein wenig auszukennen und nach einer guten Viertelstunde haben wir das Hotel gefunden, in dem Zimmer für uns reserviert sein sollen. Eine Suppe noch zum Abendessen in einem kleinen Restaurant in der Nähe und dann in unsere beiden Doppelzimmer. Morgen früh, gleich nach dem Frühstück, möchte ich zum Haus von „Ärzte ohne Grenzen“, um zu besprechen, wann und wo wir mit den beiden Deutschen, die hier arbeiten, drehen können.


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 17. März 2020 unter dem Titel „März 2001 – Masern und die Flucht durch die Wüste“ Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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