März 2001 – Masern und die Flucht durch die Wüste Kay muss vorne sitzen, anders geht es nicht. Nur so kann er mit seiner Kamera aus dem Seitenfenster und nach vorne drehen. Heute morgen ging alles etwas überstürzt. Nach dem Frühstück sind wir zu dem Haus gefahren, in dem die Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“

März 2001 – Masern und die Flucht durch die Wüste

Kay muss vorne sitzen, anders geht es nicht. Nur so kann er mit seiner Kamera aus dem Seitenfenster und nach vorne drehen. Heute morgen ging alles etwas überstürzt. Nach dem Frühstück sind wir zu dem Haus gefahren, in dem die Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ untergebracht sind. Nur ganz kurz konnten wir miteinander sprechen, denn Hanna, eine Krankenschwester aus Deutschland war schon auf dem Sprung. In einem Dorf südöstlich von Kandahar soll die Bevölkerung gegen Masern geimpft werden. Die Krankheit war hier und im nahe gelegenen Pakistan ausgebrochen und kann in dieser Region in bis zu 30 Prozent der Fälle tödlich verlaufen.

Zwei geländegängige Fahrzeuge stehen bereit und wenn wir uns sofort entscheiden, können wir mitfahren. Machen wir. Ali, unser Fahrer, bleibt zurück in Kandahar, Mustafa unser dauerhafter Begleiter kommt natürlich mit. Eine knappe Stunde fahren wir. Zuerst über asphaltierte Straßen, etwas später dann über Feld- und Sandwege. Kurz vor Erreichen des Dorfes geht es ein Stück in einem ausgetrockneten Flussbett entlang und dann, die Böschung hinauf, mitten auf den Dorfplatz. Schnell wird ein Mann von unserer Ankunft unterrichtet, der so etwas wie der Bürgermeister oder der Dorfälteste sein muss. Er weiß von der Impfkampagne und ruft ein paar Jungen herbei, die helfen, die auf den Fahrzeugdächern mitgebrachten Tische und Kästen aufzubauen. Gleichzeitig läuft jemand durch das Dorf und ruft aus, dass alle Kinder und Jugendlichen zum Impfen kommen sollen. Das scheint erstaunlich gut zu funktionieren, denn 20 Minuten später hat sich schon eine Schlange vor den aufgebauten Klapptischen gebildet. Kay hat längst angefangen zu drehen und versucht, die deutsche Krankenschwester mit der Kamera zu beobachten.

Ich hatte mir vorgenommen, mit Mustafa unter vier Augen zu sprechen. Ich werde noch immer nicht schlau aus ihm. Eingesetzt ist er von der Taliban-Regierung. Seine Aufgabe ist vor Allem, auf uns aufzupassen und uns, falls erforderlich, in die Schranken zu weisen. Trotzdem hört er verbotene Musik und toleriert bisher, dass wir immer wieder gegen die Gesetze verstoßen und Menschen filmen. Was ist das für ein Mann? Hier bei Kay und der provisorischen Impfstation kann ich gerade ohnehin nicht helfen, so dass ich unseren „Wachhund“ bitte, mit mir einen Spaziergang durch das Dorf zu machen. Und ich habe mich entschlossen, ganz offen zu sein – auf die Gefahr, dass er uns doch noch Schwierigkeiten macht.

Findest du die neue Regierung und ihre Gesetze eigentlich gut?“ will ich von ihm wissen.

Mit großen Augen sieht der Mann, er ist etwa Mitte 20, mich an. Holt tief Luft und erklärt mir, dass er ein wahrer Moslem sei, dass die Taliban den Frieden gebracht hätten und dass es mit Afghanistan, als Teil der islamischen Welt, jetzt wieder aufwärts gehen werde. Und dann kommt minutenlang gar nichts mehr und ohnehin hat sich sein kurzer Redeschwall angehört, als hätte er die paar Sätze auswendig gelernt. „Und wie ist das mit der verbotenen Musik im Auto?“ Ach, das wäre doch nur eine kleine Sünde und sicher nicht so schlimm. Wieder schweigt er eine Weile. Wieder staune ich über sein geschliffenes britisches Englisch.

Nachdem wir um eine weitere Häuserecke gebogen sind, kommt leise aber sehr gut verständlich: „This so called Government is incredibly bad for our country.“ Jetzt bin ich es, der ihn mit erstaunten Augen ansieht. Hat er gerade gesagt, dass die Taliban-Regierung unbeschreiblich schlecht für Afghanistan wäre? Und dann spricht er weiter: „All diese neuen Regeln und Gesetze werfen uns um Jahrhunderte zurück. ‚Keine Menschen filmen‘, was für ein Unsinn, Frauen müssen zu Hause bleiben, wie unbeschreiblich rückständig!“ Testet er mich jetzt oder ist er ehrlich zu mir?

Am Rande des Dorfes setzen wir uns auf einen Sandhügel. Kay wird das mit der Masernimpfung schon alleine hinbekommen – Mustafa erzählt mir in wenigen Worten seine Geschichte. Sein Vater war afghanischer Botschafter in Indiens Hauptstadt New-Delhi. Dort ist unser Dolmetscher zur Schule gegangen. Eine moderne Familie in einem modernen Haus und mit liberalen Ansichten. Später hat er in London studiert, seine Frau kennen gelernt und ist mit ihr und den beiden gemeinsamen Kindern aus familiären Gründen erst vor ein paar Monaten nach Afghanistan zurückgekehrt. Für die Taliban-Regierung arbeitet er, weil sie ihm den Job angeboten haben, er den frommen Muslim gespielt hat und in den Kriegswirren keine andere Arbeit finden konnte. Jedenfalls keine, bei der er nicht mit Waffen hantieren musste. Und zum Schluss versichert er mir noch, dass er uns bei unserer Arbeit auf keinen Fall im Wege stehen möchte.

Langsam und schweigend gehen wir dorthin zurück, wo noch immer Kinder geimpft werden. Kay und die Kamera stehen im Schatten eines Baumes doch ich würde gerne noch ein kurzes Interview mit Hanna machen. Das Stativ ist schnell aufgebaut, das Handmikrofon eingestöpselt und ausgesteuert. Gerade habe ich Luft geholt, um meine erste Frage an die deutsche Krankenschwester zu stellen, da kommt ein Junge, laut rufend, von einem der Hügel herunter auf uns zugelaufen. Ein paar kurze, paschtunische Sätze und Mustafa übersetzt für uns. „Ein PickUp-Fahrzeug mit schwarz gekleideten Männern kommt auf das Dorf zugefahren. Die Männer tragen Waffen und sind vermutlich Taliban.“ Das hat uns gerade noch gefehlt, dass die den Frieden im Dorf stören. Hanna reagiert sofort: „Ihr nehmt meinen Geländewagen und haut ab. Wir treffen uns am Abend in unserem Haus in Kandahar. Ich komme, wenn ich hier fertig bin, mit dem anderen Auto nach.“ Es dauert keine halbe Minute und Ausrüstung, Mustafa, Kay und ich sitzen im Auto. Der Fahrer ist instruiert und hoffentlich auf unserer Seite.

In rasender Fahrt über die staubigen Feldwege verlassen wir das Dorf, entgegengesetzt der Richtung, aus der sich die vermeintlichen Taliban nähern. ‚Die müssen unsere Staubwolke sehen‘, geht mir durch den Kopf. Doch was wäre die Alternative? Jetzt sitzt Mustafa, der Diplomatensohn vorne. Zusammen mit den Fahrer überlegt er anscheinend, welchen Weg wir am besten nehmen. Für mich sieht es so aus, als würden wir völlig planlos über Stock und Stein brettern. Der Fahrer scheint aber gefasst und sehr konzentriert zu sein. Wenn der Wind von der Seite kommt, und der Staub deswegen auch zur Seite weggeblasen wird, kann ich nach hinten schauen. Eine Sandwolke in der Ferne, ein Auto kann ich nicht erkennen. Auf einem Hügel, für mich genau in der Mitte von Nirgendwo, halten wir an und steigen aus. Nichts zu sehen. Kein Haus, kein Auto, kein Baum, nur etwas Gestrüpp auf kargem Sandboden. Jetzt hätte ich gern ein Funkgerät dabei, mit dem ich Hanna oder die Leute im Haus von „Ärzte ohne Grenzen“ anrufen könnte.

Die Frage ist doch, ob die Taliban, wenn es denn welche waren, uns nicht schon in Kandahar erwarten. Sicher wissen sie, in welchem Hotel wir wohnen und ebenso sicher wissen sie, wo die Mitarbeiter der Hilfsorganisation untergebracht sind. Wenn die uns kriegen wollen, müssen sie in der Stadt nur in aller Ruhe abwarten. Wir dürften wohl keine Chance haben zu entkommen.


Das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches erscheint am 31. März 2020 unter dem Titel „März 2001 – In der Hand der Taliban“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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