März 2001 – In der Hand der Taliban Erst nach Einbruch der Dunkelheit trauen wir uns zum Haus von „Ärzte ohne Grenzen“. Nach unserer Flucht durch die Wüste hat uns der Fahrer der Hilfsorganisation direkt an unserem Hotel abgesetzt. Jetzt hat uns Ali, der Kay und mir mit seinem Auto vom Ministerium zugewiesen wurde, zum
März 2001 – In der Hand der Taliban
Erst nach Einbruch der Dunkelheit trauen wir uns zum Haus von „Ärzte ohne Grenzen“. Nach unserer Flucht durch die Wüste hat uns der Fahrer der Hilfsorganisation direkt an unserem Hotel abgesetzt. Jetzt hat uns Ali, der Kay und mir mit seinem Auto vom Ministerium zugewiesen wurde, zum Treffen mit Hanna, der Krankenschwester, und Karin, einer deutschen Ärztin, gefahren. Und nein, kein Taliban-Polizist erwartet uns am Haus der Organisation.
Schon mehrmals habe ich im Rahmen meiner Reportagen mit „Ärzte ohne Grenzen“ zusammengearbeitet. Vor allem im Sudan, in Kenia, Somalia und Ruanda. Gegründet wurde die Organisation von Medizinern und Journalisten vor ziemlich genau 30 Jahren in Frankreich. So ist der Name eigentlich auch „Médecins Sans Frontières », abgekürzt MSF. Die Mitarbeiter sind in fast allen Krisengebieten der Erde tätig und leisten in erster Linie medizinische Hilfe. Doch auch Nahrungsmittel- und Wasserversorgung wird dort, wo es nötig ist, organisiert. In Afghanistan wurde MSF erstmals im Jahr 1980 aktiv. Hier in Kandahar sind die „Ärzte ohne Grenzen“ mit zwei deutschen und mehreren afghanischen Mitarbeitern vor Ort.
Am Abend kann ich mich dann endlich für Hannas aktive Hilfe bedanken. Immerhin hat sie uns spontan ihr Auto mit Fahrer als Fluchtwagen zur Verfügung gestellt. „Das war wirklich so etwas wie Taliban-Polizei, was da kam“, erzählt sie uns. „Und die waren nicht glücklich darüber, dass ich unverschleiert war und erst recht nicht darüber, dass ich zusammen mit Männern arbeite.“ Letztendlich zeigte sich aber, dass die schwarz gekleideten Turbanträger von der Impfkampagne gehört hatten und sich ihren „Schuss“ abholen wollten. Nachdem alle ihre Injektion bekommen hatten, wären sie wieder abgezogen. Ob die gar nicht hinter uns her waren?
Etwas später lernen wir dann auch Karin kennen. Sie ist Allgemein- und Tropenmedizinerin und hilft im örtlichen Krankenhaus. Es ist das größte Hospital der Stadt, gehört dem Staat und wurde, nach etlichen Kriegszerstörungen, erst 1995 vom Roten Kreuz wieder aufgebaut. „Eigentlich“, so sagt Karin, „ ist es das einzige „echte“ Krankenhaus im ganzen Süden von Afghanistan.“ Dorthin kommen nicht nur Patienten aus der Provinz Kandahar sondern auch aus mehreren umliegenden Provinzen, wie Oruzgan, Helmand, Zabul und Ghanzni. „Manche Patienten brauchen einen oder zwei Tage, um uns zu erreichen.“ Mit Karin verabreden wir uns für morgen früh am Krankenhaus. Sie möchte uns den Direktor vorstellen und uns das Krankenhaus und ihre Arbeit dort zeigen.
Pünktlich um acht Uhr sind wir vier an der Klinik. Ali wartet mit dem Auto draußen, Mustafa, Kay und ich nehmen unsere Ausrüstung mit und melden uns drinnen, bei der Aufnahme. Karin hatte uns wohl schon angekündigt – jedenfalls werden wir erwartet und gebeten, ein paar Minuten Platz zu nehmen. Es ist voll hier, ständig kommen neue Patienten, Menschen in weißen Kitteln laufen hin und her, es wird gerufen, Telefone klingeln, Türen schlagen. Mir kommt es chaotisch vor, aber das Personal scheint den Überblick zu behalten. Kaum haben wir uns einen Platz zum Sitzen gesucht, kommt Karin schon mit wehendem, weißen Kittel um die Ecke. „Los, kommt, wir stellen euch schnell dem Direktor vor und fragen, ob ihr drehen dürft.“
Das Büro des Krankenhauschefs ist gleich neben der Notaufnahme. Hier drin ist es ruhig und der Mann scheint völlig entspannt zu sein. Es gibt Tee, dazu Rosinen und Nüsse. Er spricht ein wenig Englisch und gibt uns ein paar Zahlen über die Klinik. Rund 350 Betten, zwei funktionierende Operationssäle, Röntgen, eigene Apotheke, eigene Küche. Vor allem das mit der Küche ist bemerkenswert, denn in vielen Hospitälern sind die Patienten Selbstversorger, müssen sich das Essen also von Angehörigen bringen lassen oder bei fliegenden Händlern kaufen. Dass wir in seinem Krankenhaus filmen, ist für den Direktor völlig in Ordnung. Zwei Bedingungen: wir dürfen nicht in der Frauenabteilung drehen und auch außerhalb davon mit Frauen, außer mit Karin, keine Interviews machen. Kein Problem und absolut akzeptabel.
Karin führt uns durchs Haus, um uns einen Überblick zu geben. Überall ist es brechend voll. Die Räume so eng belegt, dass man sich zwischen den Betten kaum bewegen kann. Betten mit neu angekommenen Patienten stehen in den Gängen, oft belagert von Angehörigen der Kranken. Kay dreht in den Zimmern, ich bin erstaunt, dass es hier, anders als vor fünf Jahren in Kabul, keine Krankensäle zu geben scheint. Mehr als sechs Betten stehen in keinem der Räume. Ein Patient, offenbar mit einer Beinverletzung, spricht ganz gut Englisch und wir machen ein kurzes Interview. Etwas später stehen wir am Ausgabefenster der Krankenhausapotheke. Es ist nur etwas mehr als eine Luke, durch die Rezepte nach drinnen und Medikamente nach draußen gereicht werden. Grundsätzlich sind es die Angehörigen der Patienten, die für die Beschaffung der Medizin verantwortlich sind. Der behandelnde Arzt stellt ein Rezept aus, Tabletten, Tropfen oder Infusionslösungen werden in einer Apotheke in der Stadt gekauft und dann ins Krankenhaus gebracht. Die hauseigene Medikamentenausgabe ist nur zuständig, wenn es sich um einen Notfall handelt oder wenn es keine Angehörigen gibt.
Auch der Apotheker spricht etwas Englisch und will uns gerne ein Interview geben. In seinen Arbeitsbereich hinein will er uns nicht lassen, herauskommen möchte er aber auch nicht. Fragen und Antworten also durch das nur ungefähr 30 x 40 Zentimeter große Schiebefenster. Immerhin ist es geöffnet. Kay muss mit der Kamera ein bisschen experimentieren, verzichtet auf das Stativ, bekommt die schwierige Position aber in den Griff. Vor unserer Kamera klagt der Apotheker, der nach seinen Worten in Indien studiert hat, über die Versorgung mit Medikamenten. Da fast alle internationalen Beziehungen Afghanistans seit 1996 abgebrochen sind, sind Arzneimittel aus dem Ausland kaum noch zu bekommen. Außer Saudi-Arabien, Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterhält kein Land mehr Beziehungen zur Taliban-Regierung. Medikamente, die bisher direkt aus Europa, Indien oder dem Iran kamen, müssen jetzt umständlich beschafft werden. „Einfache Schmerzmittel haben wir jede Menge“, erzählt der Apotheker, „aber Betäubungsmittel für die Vollnarkose fehlen inzwischen völlig.“ Ersatzweise und trotz der gefährlichen Nebenwirkungen, sowie der Explosionsgefahr, muss wieder Äther oder Chloroform verwendet werden. Auch Breitbandantibiotika sind inzwischen in Afghanistan kaum noch erhältlich. „Wer Geld hat,“ so der Pharmazeut weiter, „fährt in den Iran oder nach Pakistan, um die erforderlichen Medikamente für Angehörige dort zu kaufen.“
Zum Schluss unserer Arbeit hier im Krankenhaus noch das Interview mit Karin, unserer Ärztin. Mit der Tür zu einem der Operationssäle im Hintergrund stelle ich ihr ein paar Fragen, um zu erfahren, warum sie hier arbeitet, wie die Arbeitsbedingungen sind und wie die derzeitige Regierung mit ihr als Frau umgeht. Auf diese letzte Frage sagt sie ganz klar: „die brauchen uns, auch um ihre eigenen Verwundeten wieder zusammenzuflicken, sonst hätten die uns Frauen von MSF schon längst rausgeschmissen.“
Gut drei Stunden sind wir jetzt hier in der Klinik. Das war es auf jeden Fall wert. Wir haben gute Szenen drehen können und gute Interviews bekommen. Was den fertigen Filmbeitrag angeht, bin ich jetzt sehr optimistisch. Schnell ist alles zusammengepackt, Mustafa schultert das schwere Stativ. Vor dem Ausgang wird Ali mit dem Auto auf uns warten. Ab ins Hotel also und dann etwas essen.
Direkt vor der Tür steht tatsächlich ein Auto. Doch es ist nicht das von Ali. Fünf Männer steigen aus, kommen auf uns zu. Alle in traditioneller Paschtunenkleidung. Die allerdings ist meist in hellen Beige- oder Grautönen. Diese Herren sind komplett in schwarz gekleidet, mit jeweils einem schwarzen Turban auf dem Kopf. Einer von ihnen sagt etwas zu Mustafa, es hört sich eher wie ein Bellen an. Zwei stehen inzwischen in unserem Rücken. Mustafa übersetzt: „Die Männer sind von der Polizei. Wir drei sind verhaftet.“ Es dauert nur Sekunden und Kay, Mustafa und ich sind mit Handschellen gefesselt. Über unseren Dolmetscher versuche ich zu erfahren, was hier los ist. Es kommt keine Antwort. Statt dessen werden wir, mit unserer Kameraausrüstung, auf die Ladefläche des PickUp-Fahrzeuges geschoben. Mustafa flüstert noch: die sagen, sie werden uns ins Gefängnis bringen und…“, dann wird er barsch unterbrochen und offensichtlich zum Schweigen verdonnert.
Wenn COVID-19 uns bis dahin nicht lahmgelegt hat, erscheint das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches am 14. April 2020 unter dem Titel „März 2001 – Im Knast der Taliban“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]