März 2001 – Ob man so das Beten lernt? Die Nacht ist eisig kalt. Alles um mich herum strömt Kälte aus. Die Wände, die stinkenden Wolldecken, die schmutzigen Klamotten, die ich anhabe und der festgestampfte Fußboden sowieso. Ich will jetzt sofort einen heißen Tee und dann hier raus! Oder lieber umgekehrt. Wunschdenken, nicht mehr. Nur

März 2001 – Ob man so das Beten lernt?

Die Nacht ist eisig kalt. Alles um mich herum strömt Kälte aus. Die Wände, die stinkenden Wolldecken, die schmutzigen Klamotten, die ich anhabe und der festgestampfte Fußboden sowieso. Ich will jetzt sofort einen heißen Tee und dann hier raus! Oder lieber umgekehrt. Wunschdenken, nicht mehr. Nur sporadisch kann ich schlafen und höre, wie auch Mustafa und Kay sich hin und her wälzen. Draußen ist es ruhig, zwei Mal sind in der Ferne Schüsse zu hören. Feuerstöße aus einer Maschinenpistole. Mit einem dumpfen „plapp“ ist etwas von oben auf meine Wolldecke gefallen. Eines von den Insekten, eine Kakerlake vielleicht, die in der Strohdecke unserer Zelle leben. Das Vieh soll verschwinden. Eigentlich reagiere ich nicht panisch, wenn Krabbeltiere auf meinem Körper unterwegs sind. Nur im Gesicht, da kann ich das überhaupt nicht leiden.

Wenn ich nur wüsste, wie spät es ist. Dass wir kein Fenster und eine permanent eingeschaltete Glühbirne an der Decke haben, lässt mich jedes Zeitgefühl verlieren. Draußen vor der Tür schlurfen Schritte vorbei. Zwei Männer? Ja, sie sprechen leise miteinander. Ob die Sonne schon aufgegangen ist? Eine Tür quietscht in ihren Angeln. Dann laute Stimmen gleich nebenan, hinter der Wand unserer Zelle. Zwei oder drei Männer brüllen sich an, dann folgt ein Schlag. Jemand wimmert nebenan. Natürlich sind auch Kay und Mustafa inzwischen hellwach. Unser Dolmetscher versucht zu verstehen, was hinter der Wand gebrüllt wird. Mehrere Schläge und dumpfe Stöße gegen unsere Wand. An den Geräuschen kann ich jetzt deutlich erkennen, dass da offensichtlich zwei Männer dabei sind, einen dritten zu verprügeln. Das Opfer jammert mittlerweile kläglich, Schläge und Gebrüll gehen weiter.

Eine der sehr, sehr seltenen Pressekonferenzen der Taliban-Regierung

„Der Mann hat am Abend das Namaz, das vorgeschriebene Gebet versäumt,“ glaubt Mustafa zu verstehen. Nach den Pflichten der Muslime hat er fünfmal am Tag sein Gebet zu verrichten. Von der Taliban-Regierung wurde diese Regel zum Gesetz erhoben. Verstöße dagegen sind strafbar. „Die da drüben,“ so unser Übersetzer weiter, „bestrafen gerade einen Mann dafür, dass er gar nicht oder nicht ‚richtig‘ gebetet hat.“ Nach den jetzt geltenden Gesetzen, dürfen solche Strafen sofort vollstreckt werden, ohne dass ein Richter dafür gehört werden muss. Nach ein paar Minuten wird nebenan die Tür zugeknallt. Zurück bleibt ein wimmernder und vermutlich gedemütigter und verletzter Mensch. Vielleicht jemand, der nicht streng gläubig ist und so leben möchte, wie er selbst es für richtig hält.

An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Bedrückt diskutieren wir drei über die Zukunft Afghanistans, über die Art, wie die Taliban den Islam auslegen und über den Sinn von Religionen im Allgemeinen. Darüber, wie von manchen Menschen oder Organisationen die Religion missbraucht wird, um zu unterdrücken oder zu indoktrinieren. Wohin wird das hier in Afghanistan führen? Schon jetzt ist das Land weitgehend isoliert von der internationalen Gemeinschaft. Wie soll es existieren, ohne funktionierende Beziehungen nach außen? Vereinfacht gefragt: woher bekommen die Taliban und ihre Untertanen in Zukunft ihre Satellitentelefone, Computer und Autos, wenn irgendwann kein Hersteller mehr nach Afghanistan liefern will oder kann? Die Antwort liegt auf der Hand: über Drittländer wie Saudi-Arabien, Pakistan oder die Vereinigten Arabischen Emirate – doch für sehr viel mehr Geld als bei direkten Importen. Geld, das der Bevölkerung abgepresst oder durch kriminelle Aktivitäten beschafft werden muss.

Irgendwann wird die Tür geöffnet. Ich werde davon wach, muss folglich zumindest ein bisschen geschlafen haben. Es sieht aus, als wäre es noch früh am Morgen. Kalte Luft strömt in unsere Zelle, der Mann an der Tür rümpft die Nase. Sollten wir in unseren schmutzigen Klamotten schon unangenehme Düfte absondern? „Raus, mitkommen“, bedeutet seine Handbewegung.

Draußen, unter dem Blechdach, sitzt wieder die Männerrunde in schwarzen Kleidern. Ein neues Gesicht ist dabei. Ein offensichtlich älterer Mann mit langem weißen Bart. Auch in schwarz aber mit dunkelgrauem Turban. Die andern scheinen ihn mit Ehrerbietung zu behandeln. Zu meinem Erstaunen bekommen wir heißen Tee und ein paar Stücke Fladenbrot, als ich andeute, dass ich mir gerne zumindest die Hände waschen würde, werden wir drei, wie immer nacheinander, zur Toilette und zum Wasserbecken geführt.

Unsere Kamera steht auf einem Podest unter dem Wellblechdach. Daneben ein Videorekorder und ein Fernsehgerät. Kay kann ein Grinsen nur sehr schwer unterdrücken. Ich frage mich, wie die Taliban-Polizei bei strengstem Video- und Fernsehverbot an die beiden Geräte gekommen ist und wer jetzt für den Besitz dieser unerlaubten Gegenstände bestraft wird. Der alte Mann mit Bart stellt sich als Imam und als Richter nach islamischem Recht vor. Er will sehen, was auf der Videokassette in unserer Kamera ist. Kay nimmt die Kassette heraus und gibt sie an den Imam weiter. Der drückt sie einem der Jüngeren in die Hand, der zuvor Fernseher und Videorekorder eingeschaltet hatte. Jetzt, bei genauem hinsehen, ist mir auch klar, warum Kay vor ein paar Minuten in sich hinein gelächelt hat. Das Gerät, was sie da beschafft haben, ist ein VHS-Video-Rekorder. So ein Ding, das bis zur Markteinführung der DVD auch in Deutschland in jedem Wohnzimmer stand.

Das wird jetzt gleich ein Problem geben und danach entweder eine Katastrophe oder einfach nur eine Blamage. Die professionellen Videokassetten, die beim Fernsehen verwendet werden, haben absolut nichts mit dem VHS-Heimvideo-System zu tun. Abgesehen davon, dass unsere Bänder nur 30 Minuten Laufzeit haben, sind die Kassetten auch schmaler aber dafür dicker als der Schlitz in dem Rekorder, der jetzt vor uns steht. Schon nach ein paar Sekunden sieht der junge Mann, der die beschafften Geräte bedient, etwas verzweifelt aus. Die Kassette von diesen ungläubigen Ausländern will einfach nicht hineinpassen. Verständnislosigkeit spricht aus den Gesichtern der Taliban-Polizisten. Der alte, bärtige Mann spricht mit donnernder Stimme irgendetwas in die Runde – Mustafa traut sich offensichtlich nicht, direkt zu übersetzten. Dann zischt der Imam ein paar an unseren Übersetzer adressierte Sätze und Mustafa wiederholt auf Englisch: „Man werde einen Weg finden, unser Videomaterial anzusehen. Morgen würde im Stadion eine Ehebrecherin gesteinigt. Wir würden gemeinsam dort hinfahren.“


Wenn COVID-19 uns bis dahin nicht lahmgelegt hat, erscheint das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches am 12. Mai 2020 unter dem Titel „März 2001 – Der kleine Mann in weiß“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

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