März 2001 – Der kleine Mann in weiß Lange, sehr lange passiert nichts. Hin und wieder werden wir aus unserer Zelle zur Toilette geführt, ab und zu kommt der Motorölkanister mit Trinkwasser und in viel zu langen Abständen werden uns halbgare Kartoffelscheiben gebracht. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier schon eingesperrt sind. Drei

März 2001 – Der kleine Mann in weiß

Lange, sehr lange passiert nichts. Hin und wieder werden wir aus unserer Zelle zur Toilette geführt, ab und zu kommt der Motorölkanister mit Trinkwasser und in viel zu langen Abständen werden uns halbgare Kartoffelscheiben gebracht. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier schon eingesperrt sind. Drei Tage? Eine Woche? Länger? Wir hören immer wieder laute Geräusche – befragt werden wir nicht.

Das Ungeziefer in unserer Zelle scheint sich rege zu vermehren. Ständig krabbelt es irgendwo am Körper. Im Schlaf muss mich eines unserer „Haustiere“ gebissen haben – an der Schulter habe ich einen stark juckenden roten Fleck. Unsere Klamotten sind schmutzig, durchgeschwitzt und müssten dringend gewaschen werden. Das Hemd klebt an meiner Haut, die Hosen verströmen „würzige Düfte“.

Es rumpelt mal wieder vor der Tür unseres Kerkers. Mit leichten Quietschen der Angeln geht sie auf und schwaches Tageslicht fällt in die Zelle; erdrückt von der ewig brennenden Glühbirne unter der Decke. Ein Mann in blendend weißer Bekleidung steht im Türrahmen. Klein, sehr dick und mit strahlend weißem Turban. Sehr irritierend, da alle „Polizisten“, „Richter“ und andere Personen der zurückliegende Tage völlig in schwarz gekleidet waren.

Passport Office

Mit tiefer, sonorer Stimme und in fließendem Englisch stellt „der Weiße“ sich vor. „Good Morning. I am the director of Kandahar International Airport“. Er steht da ganz alleine – kein „Schwarzer“ hinter ihm. Und dann sagt er uns, dass auf dem Flughafen, dessen Direktor er ist, ein UN-Flugzeug bereit stände, um uns nach Pakistan zu fliegen. Wir sollen uns beeilen.

Na klar, nichts lieber als das. Wir folgen ihm über den Innenhof. In der Ecke sitzen die „Amtspersonen“, die uns vor ein paar Tagen eigentlich zu einer Steinigung schleppen wollten und schwere Strafen angedroht haben. Ich habe den Eindruck, als würden sie vor dem Mann in Weiß kuschen – zumindest aber Respekt zeigen. Vor der Tür des Gefängnisses steht unser Auto mit Fahrer. Ein kurzer Blick in den Kofferraum: Alle unsere Sachen aus dem Hotelzimmer sind hier. Die Kamera, gerade noch in den Händen der Taliban-Polizei, liegt auf dem Rücksitz und sieht unversehrt aus.

Der kleine Mann in Weiß steigt vorne rechts ein, Mustafa, Kay und ich quetschen uns zu der Kamera auf die hintere Sitzbank. Worte fliegen zwischen unserem Fahrer und unserem Retter hin und her. Ich verstehe nichts, sehe aber, das Ali ordentlich Gas gibt. Mustafa, wegen der Enge auf dem Rücksitz dicht an mich gedrängt, zittert am ganzen Körper. Die Sonne steht fast direkt vor uns. Wenn es, was ich vermute, noch früh am Morgen ist, dann fahren wir mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Straßen von Kandahar in Richtung Osten.

Keine 10 Minuten sind vergangen, seitdem der Flughafendirektor uns im Knast abgeholt hat. Plötzlich gebietet er Ali rechts ran zu fahren und anzuhalten. ‚Mist, das war wohl eine Taliban-Falle‘, geht mir durch den Kopf. Jetzt wird es wohl richtig ärgerlich für uns… An Flucht ist hier nicht zu denken. Und auf Steinigung hat niemand von uns Lust – erst recht nicht auf die eigene.

Er dreht sich zu uns um, seine dunklen Augen funkeln. Er holt tief Luft und erklärt uns mit seiner tiefen Stimme, dass er nichts mit dem Flughafen zu tun habe und dass auch kein Flugzeug auf uns wartet. Wir sollen auf direktem Weg nach Kabul zurückfahren und uns dort sofort beim Passport-Office melden. Man würde uns erwarten. Mit einer für seinen Körperumfang erstaunlich flinken Bewegung öffnet er die Tür, springt aus dem Auto und verschwindet.


Wenn nichts wichtigeres dazwischen kommt, erscheint das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches am 26. Mai 2020 unter dem Titel „März 2001 – Nach 28 Jahren wieder im Passport-Office“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.
Dieter Herrmann

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