März 2001 – Nach 28 Jahren wieder im Passport-Office Die Fahrt nach Kabul verläuft, zumindest für derzeitige Verhältnisse, völlig normal. Wieder eine Übernachtung in Ghasni, wieder Fleisch vom Spieß, wieder Dutzende von Straßenkontrollen, bei denen vor allem nach Zeitungen und Audiokassetten gesucht wird. Mustafa ist hochgradig nervös, kann oder will aber nicht sagen, warum. Am

März 2001 – Nach 28 Jahren wieder im Passport-Office

Die Fahrt nach Kabul verläuft, zumindest für derzeitige Verhältnisse, völlig normal. Wieder eine Übernachtung in Ghasni, wieder Fleisch vom Spieß, wieder Dutzende von Straßenkontrollen, bei denen vor allem nach Zeitungen und Audiokassetten gesucht wird. Mustafa ist hochgradig nervös, kann oder will aber nicht sagen, warum.

Am Abend des zweiten Tages nach unserer „Entlassung“ aus dem Gefängnis in Kandahar checken wir im Hotel Intercontinental in Kabul ein. Ganz deutlich ist hier, dass man uns erwartet hat. Je ein Zimmer für Kay und mich. Eines mit Heizung, das andere mit Toilette. Mustafa sagt wieder, er würde sich in der Lobby ausruhen und auf uns warten, damit wir am Morgen gleich zum Passamt gehen können, um unser Ausreisevisum zu holen. Die Nacht ist unruhig. Lärm in der Lobby, der bis in die Zimmer dringt, Schüsse ganz in der Nähe des Hotels, eine schwere Explosion in der Ferne.

Gegen sieben Uhr dann Frühstück mit Mustafa. Es gibt natürlich Fladenbrot, Schafskäse, Honig, Tomaten und Grünen Tee. „Jetzt ein Stück Leberwurst, denke ich mir… Nicht mehr lange und wir sind wieder in Europa. Für den Nachmittag habe ich mir vorgenommen, das Satellitentelefon aufzubauen und bei der Deutschen Welle in der Redaktion anzurufen. Mustafa spricht kein Wort, ist bedrückt und auf meine Frage, ob er schon bei seiner Familie hier in Kabul gewesen sei, kommt nur ein nichtssagendes „Kein Problem“ von ihm.

Mein Visum für das Afghanistan der Taliban-Regierung

Etwas später taucht Ali, unser Fahrer, auf, um uns zum Passamt zu bringen. Mustafa redet noch immer nicht mit uns. Die Straßen sind voll. Eine große Schafherde blockiert eine der wichtigsten Hauptverbindungen in die Innenstadt, so dass Ali einen langen Umweg fahren muss. Rechts von uns liegt der Zoo von Kabul. Sicherlich der traurigste Tiergarten, den ich je besucht habe. Ein paar eingesperrte Schäferhunde, drei oder vier Bären, Hühner und andere Vögel, kleine Raubkatzen. Nicht viel mehr. Niemand wollte wohl die Tiere durchfüttern, als die Menschen kaum genug zum Überleben hatten.

Eine eigenartige Geschichte rankt sich um den letzten Löwen des Zoos. Legende oder Wahrheit? Ich weiß es nicht: Ein paar Wochen nachdem im Jahr 1996 die Hauptstadt von den Taliban-Truppen erobert war, feierten wohl ein paar der Taliban-Krieger ihren Sieg im Zoo. Einer von ihnen muss sich besonders stark und heldenhaft gefühlt haben und kam auf die Idee, über den hohen Zaun in den Käfig des letzten Kabuler Löwen zu klettern. Große Überraschung: die Katze hatte wohl Hunger und sah, dass ihre Mahlzeit auf dem Weg zu ihr war. Als der Löwe auf den Eindringling losging, erkannte man auf der anderen Seite der Gitterstäbe die Gefahr für den Kameraden. Eine Handgranate wurde abgezogen und auf die Raubkatze geworfen. Als der Pulverdampf verzogen war, wurde deutlich: den Löwen hatte es zerfetzt. Den Helden auch.

Keine Warteschlange am Passport-Office im Stadtteil Shar-E-Naw. Auch keinerlei Beschilderung. Mustafa fragt sich für uns durch. Zur Stelle für Ausreise-Visa müssen wir. Es ist ein extrem chaotisches Büro. Akten auf den beiden Schreibtischen, in Regalen, auf der Fensterbank und auf dem Fußboden. Zwei in Schwarz gekleidete, bärtige Männer mit schwarzem Turban. Kein gutes Zeichen! Und auch hier wartete man schon auf uns.

Ein paar Worte gehen zwischen den beiden Beamten und Mustafa hin und her. Beide stehen wie auf Kommando von ihren Schreibtischen auf, nehmen unseren Dolmetscher in die Zange. Einer dreht ihm die Arme auf den Rücken, der andere fesselt ihn mit einem Paar Handschellen. Mustafa ist nicht erschrocken. „I knew it“, flüstert er uns zu. Er hat wohl gewusst, was ihm hier droht. Kay und ich sind absolut nicht auf eine solche Situation gefasst. Sekunden vergehen und der Übersetzer, der inzwischen unser Freund geworden war, wird von einem der „Schwarzen“ weggeführt.

Der andere bellt uns ein „Passport!“ entgegen. Eine Minute blättert er durch die Seiten mit den Stempeln, findet das Visum des „Islamischen Emirats von Afghanistan“ und drückt einen weiteren Stempel daneben. „Go to airport now!“, kommt noch von ihm und wir sind raus aus seinem Büro. Jetzt also mit Ali schnell zum Hotel, alles einpacken und bezahlen.

Es ist fast Mittag in Afghanistan, früher Vormittag also in Deutschland. Schnell baue ich noch mein Satellitentelefon auf, um den Kollegen bei der Deutschen Welle in Berlin zu sagen, dass wir auf dem Rückweg sind. Vor lauter Eile finde ich die richtige Richtung zum Satelliten nicht gleich – nach ein paar Minuten aber steht die Verbindung und ich rufe in der Redaktion in Berlin an. Der erste Kollege, den ich am Apparat habe, ist völlig überrascht und wähnte mich in der Türkei. In der für uns zuständigen Abteilung hatte man noch gar nicht gemerkt, dass wir uns tagelang nicht gemeldet hatten. Dabei ist es bei der Arbeit in Krisengebieten ein ungeschriebenes Gesetz, dass der Reporter sich einmal am Tag meldet.

Ohnehin scheint es, dass bei der Deutschen Welle niemand auf Reportagen aus gefährlichen Regionen eingerichtet ist. Zwar möchte man in der Liga der großen internationalen Nachrichtensender mitspielen – doch schon bei meinen ersten Reportagen aus Afghanistan, im Jahr 1996, war der Sender nicht in der Lage, mir „kugelsichere“ Schutzwesten für mein Kamerateam und mich zur Verfügung zu stellen. Wir mussten uns dieses vielleicht wichtigste Ausrüstungsstück selbst besorgen…

Warteschlange vor dem Passport-Office in der Nach-Taliban-Zeit (2015?)

Wann hätte man beim Sender wohl Alarm geschlagen? Wie lange müssen Mitarbeiter in Krisengebieten verschollen sein, bevor etwas unternommen wird?

In aller Eile also vom Hotel zu Flughafen. Noch immer steht „mein“ Wegweiser auf dem Vorplatz des Terminals. Die Schilder, die mich 1973 zum ersten Mal in ein afghanisches Gefängnis gebracht haben.

Gibt es heute überhaupt einen Flug aus Kabul raus? Hätten wir nicht buchen müssen? Wann? Wie?

Tatsächlich steht dort eine Maschine vom Typ „Beechcraft 1900“ des Roten Kreuzes. Unsere Pässe werden nur flüchtig kontrolliert – unser Gepäck gar nicht. Rund eineinhalb Stunden später landen wir in Islamabad, der Hauptstadt Pakistans. Frei, lebendig, mit allen Videokassetten.

Doch was ist mit Mustafa? Über die deutsche und die afghanische Botschaft versuchen wir, Informationen zu bekommen. Die Deutschen hören sich unsere Geschichte gründlich an, können aber offensichtlich nicht helfen. In der Botschaft Afghanistans ist man nicht interessiert.


Wenn nichts wichtigeres dazwischen kommt, beginnt das 4. Buch meines Afghanistan-Tagebuches am 9. Juni 2020 unter dem Titel „August 2009 – Ausbildung nach alten deutschen Regeln“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]


Meine erste Reise nach Afghanistan begann im Frühsommer 1973. Seitdem bin ich sicher über 100 mal mal im Land am Hindukusch gewesen und habe insgesamt mehre Jahre dort verbracht. Alle politischen System vom Königreich bis zur heutigen Islamischen Republik habe ich kennen gelernt. In rund 60 Kapiteln schildere ich, basierend auf Tagebüchern und Erinnerungen, meine Erlebnisse in dem Land, das seit 1973 nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister. Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land. Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.
Dieter Herrmann

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