August 2009 – Ein Prinz mit Besen Endlich bekommen wir den extra für die Wahlen eingeführten neuen Presseausweis. Beantragt hatten wir ihn sofort nach unserer Ankunft in Kabul. Ausgestellt und uns übergeben werden die Ausweise in genau dem Zimmer des Außenministeriums, in dem ich auch schon 1996 und 2001 gesessen habe. Hat der Chef der
August 2009 – Ein Prinz mit Besen
Endlich bekommen wir den extra für die Wahlen eingeführten neuen Presseausweis. Beantragt hatten wir ihn sofort nach unserer Ankunft in Kabul. Ausgestellt und uns übergeben werden die Ausweise in genau dem Zimmer des Außenministeriums, in dem ich auch schon 1996 und 2001 gesessen habe. Hat der Chef der Abteilung abgenommen? Das Gesicht kommt mir sehr bekannt vor. Die alten klapprigen Schreibmaschinen sind durch Computer ersetzt und die „neuen“ Ausweise sind dreisprachig. Englisch, Paschtu und Dari.
Wahab, unser Fahrer, erzählt, dass heute in ganz Afghanistan der Tag der Umwelt wäre. Ob die Umwelt wohl ein vordringliches Problem in Afghanistan ist? Überall sollen die Leute die Straßen reinigen, in der Hauptstadt soll der „Kabul-River“ entrümpelt werden und eine demonstrative Aktion mit einem beim Volk sehr beliebten Menschen würde am Nachmittag im Shar-E-Naw-Park stattfinden. Aus dieser Aktion für die Sauberkeit des Landes machen wir einen Filmbeitrag, beschließen wir gemeinsam.
Los geht’s am Fluss, der seit etlichen Jahren nur noch etwas mehr als ein Bach ist. Er entspringt knapp 100 Kilometer westlich von hier, unterhalb des Unai-Passes, fließt durch Kabul und Jalalabad und gut 350 Kilometer weiter östlich, in Pakistan, dann in den Indus und mit ihm in den Indischen Ozean. Noch in den siebziger und achtziger Jahren war der Kabul-River ein strömendes, klares Gewässer. Natürlich wurde im Fluss schon immer Wäsche gewaschen, am Wochenende standen Autos am Ufer und wurden mit viel Wasser vom Dreck befreit. Der Fluss hat das ausgehalten, war beliebtes Badegewässer für die Jugend. Heute sehe ich im Bett des Kabul-River nicht viel mehr als eine widerlich stinkende Kloake.
Alles, was man sich so als Müll vorstellen kann, einschließlich diverser Schlachtabfälle, ist im und am Fluss zu finden. Am Ende des Tages meldet das Fernsehen, dass unter anderem auch die Leichen von zwei lange vermissten Personen entdeckt wurden. Vor allem das Militär hat anscheinend viele Hundert Männer aufgeboten, um das Flussbett zu reinigen. Auf den Uferstraßen stehen schwere Armee-Lastwagen, die Soldaten schleppen den Müll die Böschung hinauf und auf die Ladeflächen der LKWs. Kay macht, wie immer, tolle Videoclips, wir sprechen mit einem Offizier, der uns auf Englisch erklärt, was hier gerade passiert. Dann will Kay mit einem der hoch beladenen Lastwagen dorthin fahren, wo der bestialisch stinkende Dreck abgeladen wird. Wahab fährt mit mir hinterher.
Immer parallel zum Fluss fahren wir in einer Kolonne von Lastwagen rund 40 oder 50 Minuten in Richtung Südwesten. Dann zweigen die Fahrzeuge nach links auf eine Schotterstraße ab. In der Luft hängt der Geruch von faulem Obst und Gemüse, nach Verwesung und nach schwelendem Plastik. Die Fahrbahn ist voller Müll, der von den LKWs heruntergefallen ist. Fahrspuren haben sich eingegraben. Über uns hunderte, vielleicht tausende schwarzer Vögel, ohrenbetäubende Schreie aus ihren Schnäbeln. Es geht bergauf. Der rußige Qualm aus dem Auspuff des Lastwagens vor uns versperrt mir vorübergehend die Sicht. Dann haben wir die höchste Stelle erreicht. Sieben oder acht LKWs werden gerade entladen. Einige davon sind Kipper, da geht es schnell und einfach. Bei anderen muss der stinkende Müll mühsam mit Schiebern, Schaufeln und Besen von der Ladefläche geschoben werden. Eine Schar Kinder sammelt Metallteile aus dem Abfall, ein paar Esel stehen zum Abtransport des Schrotts bereit. Kay filmt und flucht dabei laut. Der Gestank ist tatsächlich kaum zu ertragen. Der Bericht wird schwer zu schneiden sein, Kays Flüche sind natürlich alle auf dem Videoband.
Von hier oben habe ich einen guten Überblick. Unter mir wird tatsächlich ein Tal mit Abfällen jeder Art gefüllt. Das fatale dabei, das untere Ende des Tals endet direkt am Kabul-River. All die Flüssigkeiten, die unten aus der Müllkippe herauslaufen, rinnen mit völliger Sicherheit in den Fluss. Nach fast einer Stunde und mit dem Gefühl, durch die eingeatmete Luft vergiftet worden zu sein, fahren wir mit Wahab zurück ins Stadtzentrum. Immerhin haben wir ja noch ein Promi-Interview auf der Liste. Unsere Kleidung wird noch tagelang üble Gerüche absondern.
Mitten im Park steht eine groß gewachsene Gestalt und schwingt einen Rechen. Grobe Kleidung, Gummistiefel und eine Paschtunenmütze. Um ihn herum ein paar Männer, die mit Werkzeugen und bloßen Händen Müll aufsammeln. Lächelnd kommt der Große auf uns zu, begrüßt uns in akzentfreiem Englisch. Es ist Prinz Mustapha Zahir Khan, der Enkel des letzten Königs von Afghanistan. Mit seinen 45 Jahren hat er eine Menge gelernt und erlebt. Hat in Kanada, England und Österreich studiert und war zeitweilig Diplomat und Berater seines Großvaters. In Jahr 2005 hat er die Nationale Umweltschutz-Organisation Afghanistans gegründet, die er seitdem auch leitet. Es wird ein wunderbares Interview mit ihm und seine Einladung zum Abendessen verspricht Großes.
Die nächste Folge meines Afghanistan-Tagebuches wird voraussichtlich am 21. Juli 2020 unter dem Titel „August 2009 – Bleib zu Hause oder wir schneiden dir den Finger ab“ erscheinen. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]