August 2009 – Bleib zu Hause, oder wir schneiden dir den Finger ab! Es gibt Schießereien in einigen Dörfern in der Nähe Kabuls. Die Taliban wollen mit allen Mitteln verhindern, dass die Wahlen am 20. August stattfinden. Im Süden des Landes haben mehrere Dorfvorsteher mitgeteilt, dass sie nicht bereit sind, Wahllokale in ihren Orten einzurichten.
August 2009 – Bleib zu Hause, oder wir schneiden dir den Finger ab!
Es gibt Schießereien in einigen Dörfern in der Nähe Kabuls. Die Taliban wollen mit allen Mitteln verhindern, dass die Wahlen am 20. August stattfinden. Im Süden des Landes haben mehrere Dorfvorsteher mitgeteilt, dass sie nicht bereit sind, Wahllokale in ihren Orten einzurichten. Die Gefahr, dass Wähler von Anhängern der Taliban ermordet werden, scheint ihnen zu groß. Es gibt Regionen, da wird sich ohnehin niemand zu den Wahlurnen trauen. Die militanten Islamisten haben angekündigt, dass jedem, der wählen gegangen ist, der Finger, der bei der Wahl mit Tinte gekennzeichnet wird, abgeschnitten werden soll.
Chaotisch auch die Lage ganz im Norden, besonders in den Grenzregionen zu Tadschikistan und Usbekistan. Hunderte von Dörfern sind per Auto unerreichbar – es gibt keinerlei Straßen. Die Wahlurnen werden per LKW so weit wie möglich an die nördlichen Enden der Täler gebracht. Von dort aus geht es nur auf dem Rücken von Maultieren und Eseln weiter. Ein paar der Karawanen, die sich auf den Weg gemacht hatten, sind inzwischen einfach verschwunden. Mit Wahlurnen und Stimmzetteln natürlich. Der Prinz von Afghanistan erzählt uns beim Abendessen, dass er sehr pessimistisch ist, was die Zukunft seines Landes angeht und dass er zumindest den derzeitigen Präsidenten nicht für fähig hält, diesen Vielvölkerstaat zu einen. „Ohne massive Hilfe von außen,“ so Prinz Mustapha Zahir Khan, „ist es unmöglich, unser Land wieder zu einem friedlichen Ort zu machen“.
Wahab, unser Fahrer, ist heute außergewöhnlich schweigsam. Ein paar Mal frage ich ihn, was denn los sei, ob wir ihm irgendwie helfen könnten. Am Abend erzählt er dann, was ihm am Vortag widerfahren ist. „Mein Freund, der Chef der Polizeiakademie hatte mir geraten, mich wieder bei der Polizei zu bewerben,“ berichtet der Paschtune, „vor kurzem soll der Posten des Polizeichefs für einen Kabuler Bezirk frei geworden sein.“ Den will Wahab haben. Im Polizeipräsidium hat er sich vorgestellt. Seine Akte gab es noch und ein paar Leute konnten sich gut an ihn erinnern. Schnell war klar, dass er genau der richtige Kandidat für den Job des Bezirkschefs ist. Arbeitsbeginn am 1. September. „Dann hat der Polizeipräsident mich noch zu einem kurzen, vertraulichen Gespräch in sein Büro gebeten. War für mich völlig in Ordnung. Dass er dann 100.000 Dollar von mir haben wollte, das hat mich fast umgehauen.“ Das wäre so üblich, wenn man eine Führungsposition bei der Polizei haben wolle. Außerdem wäre das ja auch kein Problem, denn nach spätestens zwei Jahren hätte man das Geld wieder drin.
Jedermann in Afghanistan weiß es: seit Ende 2001 / Anfang 2002 gibt es ein mehr und mehr ausgeklügeltes Bestechungssystem im ganzen Land. Ohne Bakschisch geht fast gar nichts mehr, Behörden werden nur tätig, wenn geschmiert wird und zeitweilig wurde am Flughafen das Gepäck nur gegen ein paar Dollar ausgehändigt. Beim Einchecken wird ohne „Schmierung“ häufig gründlichst gefilzt und meist etwas (mehr oder weniger) Verbotenes gefunden. Nun scheint es, als wäre dieses System bis in die höchsten Polizeikreise perfektioniert worden. In Wahab’s Afghanistan war zumindest die Polizei noch unbestechlich. Er hat den Job nicht bekommen – und ihn wohl auch nicht mehr haben wollen.
Nur ein paar Tage noch bis zum Urnengang. Die Anschläge nehmen zu. Nicht hier in Kabul, aber vor allem im Süden Afghanistans. In der Nähe von Kandahar ist ein Wahllokal, das Klassenzimmer einer Schule, durch einen Sprengsatz völlig zerstört worden. Gerade in solchen Regionen wird die Angst vor dem Wahltag immer größer. Nach Angaben des Wahlleiters sollen jetzt mehr als 80 Prozent aller Wahllokale im Land mit Urnen, Wahlzetteln, Plakaten und Tinte ausgestattet sein. Die Tinte ist die gleiche, wie sie z.B. in Deutschland bei der Fleischbeschau verwendet wird. Mit ihr wird nach der Abgabe des Stimmzettels ein Finger des Wählenden markiert, so dass dieser Mensch nicht ein zweites Mal seine Stimme abgeben kann. Es ist angeblich unmöglich, die Tinte zu entfernen – sie muss langsam herauswachsen. Genau dieses ist dann der Finger, den abzuschneiden die Taliban versprochen haben.

Frau bei der Abgabe ihres Wahlzettels in Faizabad/Badakhschan. Der Zeigefinger ist schon markiert. – Foto: Jawal Jalali
Am Abend haben wir den Wahlleiter vor der Kamera. Er gibt zwar zu, dass er und seine Leute eine extrem schwierige Aufgabe zu lösen haben, sagt aber auch, dass sie hervorragendes geleistet haben und dass die Bevölkerung keine Angst vor den Taliban haben soll. Knapp zwei Stunden später fliegt ein Wahllokal einschließlich aller darin arbeitenden Menschen in die Luft. Etliche Tote.
Zusammen mit Wahab als Übersetzer fragen wir Menschen auf der Straße, ob sie am Donnerstag zur Wahl gehen werden. Fernsehleute nennen so etwas „VoxPop“ und es ist so etwas wie eine kleine Volksbefragung mit Kamera und Mikrofon. Kay steht schräg hinter Wahab, dreht sozusagen über die Schulter unseres Übersetzers hinweg. Wahab stellt die Frage. „Werden sie bei der Präsidentenwahl ihre Stimme abgeben?“ Immer die gleiche Frage, viele unterschiedliche Antworten. Fast die Hälfte aller Frauen dreht sich weg, will nichts sagen, vermutlich auch nicht gefilmt werden. Ein paar Männer wechseln die Straßenseite, nachdem sie uns entdeckt haben. Ich schätze, dass 70 Prozent aller Antworten die wir bekommen, positiv ausfallen. Diese Menschen wollen unbedingt wählen gehen. Ein paar bekunden Desinteresse an der Politik und andere denken, dass ihnen das Risiko zu groß ist. Eigentlich ist das Ergebnis gar nicht so schlecht – doch wir sind hier im relativ sicheren Kabul. In dörflichen Regionen, gerade im Süden, wo die Taliban nie wirklich vertrieben wurden, dürften die Antworten völlig anders ausfallen.
Die nächste Folge meines Afghanistan-Tagebuches wird voraussichtlich am 4. August 2020 unter dem Titel „Wie gut, dass es Nagellackentferner gibt“ erscheinen. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]