Juni 1973 – Warten an der iranisch-afghanischen Grenze. Ab ungefähr neun Uhr sollen die Beamten wieder im Dienst sein. Die Nacht liegt vor uns, es ist dampfend heiß und die zwei Frauen können hier unmöglich außerhalb unseres Autos schlafen. Im VW-Bus ist es dann noch etwas wärmer. Irgendwann mitten in der Nacht weckt Michelle mich.

Juni 1973 – Warten an der iranisch-afghanischen Grenze.

Ab ungefähr neun Uhr sollen die Beamten wieder im Dienst sein. Die Nacht liegt vor uns, es ist dampfend heiß und die zwei Frauen können hier unmöglich außerhalb unseres Autos schlafen. Im VW-Bus ist es dann noch etwas wärmer. Irgendwann mitten in der Nacht weckt Michelle mich. Sie muss pinkeln und die Toilette ist am entgegengesetzten Ende des Zollplatzes, 250 Meter im Slalom zwischen geparkten Autos und schlafenden Leibern hindurch. Mist, die Batterien der Taschenlampe sind leer, neue wollten wir in Herat kaufen. Michelle greift sich eine Kerze. Weich, durch die hohe Lufttemperatur – aber immerhin etwas Licht gleich auf der Toilette. Es ist wirklich stockdunkel – auf dem Weg zum Plumpsklo nur ein kleines Feuer hier und dort.

Ein Bretterverschlag. Die mit Lederriemen befestigte Tür kann nicht abgeschlossen werden. Unter unseren Turnschuhen knirscht es, als hätte man Kies vor der Toilette gestreut. Ich zünde die Kerze an und halte sie etwa in Augenhöhe, so dass Michelle das Loch im Boden findet. Mehr ist es nicht. Ein paar Kakerlaken huschen auf der festgestampften Erde um uns herum. Alles andere ist bei dem flackernden Licht nicht zu sehen. Es stinkt erbärmlich und es scheint, als hätte mindestens die Hälfte der Benutzer das Loch nicht getroffen. Bloß schnell zurück zum Auto – und die Schuhe besser nicht mit in den Wagen…

Als kurz vor sechs die Sonne aufgeht wird die Hitze im Auto unerträglich. Seit Tagen hängt außen am VW-Bus ein fester Leinensack mit Wasser. Kurz hinter Mashhad, an einer Pumpe, hatten wir ihn aufgefüllt. Dieser Sack ist eine wunderbare Erfindung, mehrere Tausend Jahre alt. Langsam und kontinuierlich verdunstet das Wasser außen am feuchten Leinen und hält den Inhalt selbst bei großer Hitze etwas kühl. Verdunstungskälte.

Der Zollhof erwacht. Lastwagenfahrer krabbeln aus ihren Führerhäusern, Fahrgäste aus den beiden Reisebussen versuchen sich einen Platz auf der Toilette zu erkämpfen, auf offenen Feuern und Benzinkochern wird der erste Tee gebraut. Vor uns parkt ein alter Ford-Transit mit deutschem Kennzeichen. Jedenfalls war das gestern Abend noch dran. Jetzt schraubt der Fahrer, der Trainingshose und T-Shirt in der Nacht gegen traditionelle afghanische Kleidung getauscht haben muss, ein afghanisches Nummernschild an sein Auto.

Breites Lachen. kaffeebraune Zähne. So kommt der Mann auf uns zu und wünscht uns einen Guten Morgen. „Wo wollt ihr hin?“ fragt er in fast akzentfreiem Deutsch. Er heißt Tarik, lebt in Eckernförde und ist auf dem Weg in seine Heimatstadt Jalalabad, um seine Eltern zu besuchen.

Bis die Abfertigungsschalter öffnen, dürfte es ohnehin noch eine Weile dauern und Tee ist schnell aufgegossen. Seit 15 Jahren ist Tarik in Deutschland, besitzt an der Ostsee eine Pizzeria und gibt sich seinen Gästen gegenüber (wohl ziemlich erfolgreich) als Italiener aus. „Seit mehr als fünf Jahren habe ich meinen Vater, meine Mutter und meine Geschwister nicht mehr gesehen. Jetzt freue ich mich riesig!“ Genau wie wir muss er zuerst nach Herat fahren und dann weiter nach Kabul. Von dort sind es nur noch ein paar Stunden bis Jalalabad.

Doch welche Strecke nimmt er nach Kabul? Drei Wege führen aus dem Westen des Königreiches in die Hauptstadt. Auf direkter Strecke sind es nur gut 800 Kilometer. Von Herat aus immer Richtung Osten durch die Orte Chagcharan und Panjab. Auf der Karte sieht das ganz einfach aus. Doch schon in Teheran, im Hotel Amir Kabir sind wir vor diesem Weg gewarnt worden. Fast durchgehend unbefestigt, extrem gebirgig und eigentlich nur mit kräftigen Geländefahrzeugen befahrbar. Die beiden Finnen, die uns das erzählt hatten, kamen gerade aus Kabul und hatten einen soliden Toyota „Land Cruiser“ und keinen VW-Bus mit nur zwei angetriebenen Rädern und „satten“ 47 PS. Topani und seine Freundin hatten für die 820 Kilometer von Kabul nach Herat gut vier Tage gebraucht.

Tarik, der italienische Afghane von der Ostsee will auf jeden Fall die Südroute fahren. Die Nordstrecke, über Maymana und Mazar-E-Sharif ist ganz gut ausgebaut und fast alles ist inzwischen asphaltiert. Eigentlich kann man die 1.200 Kilometer in zwei Tagen schaffen. Doch da oben gibt’s ständig Gefechte zwischen irgendwelchen wilden Stämmen. Brauche ich nicht unbedingt.“

Und wir, wir nehmen auch die Straße durch den Süden Afghanistans über Laskkar Gah, Kandahar und Ghasni. Angeblich durchgehend mit festem Belag und „fast wie eine deutsche Autobahn“, sagt Tarik. Von Herat aus 1.300 Kilometer – und wir wollen uns drei oder vier Tage Zeit lassen.

Die Sonne hämmert mir brutal auf den Schädel. Da hilft auch die dichte Haar-Matte nicht, die mir inzwischen fast bis auf die Schultern fällt. Es ist kurz vor zehn und irgendwie geht Gemurmel und Bewegung durch die Gruppen der Wartenden. Es geht los. Die afghanischen Behörden sind bereit, uns zu empfangen. Drei Reisepässe, dunkelgrüner internationaler Fahrzeugschein, hellgrauer internationaler Führerschein, gelbes „Carnet de Passage“, drei gelbe Impfpässe. Vorsichtshalber ein paar US-Dollar in kleinen Scheinen. Ziemlich viel Papierkram, der so herumgeschleppt werden will.

Tarik ist Gold wert hier an der Grenze. Die Beamten sprechen Dari mit ihm. Das ist die Bezeichnung der persischen Sprache in Afghanistan. Im Iran spricht man Farsi. Der Pizzabäcker entpuppt sich als rücksichtsloser Drängler. Irgendwie scheinen das aber alle anderen hier auch zu sein. Es wird geschubst, geschimpft und gelacht. Unsere Papiere werden über abgenutzte, splitternde Bürotische geschoben, Geldscheine, die ich zuvor noch nie gesehen habe, wechseln den Besitzer. Nach kaum einer halben Stunde sind Tarik und ich wieder draußen. Carnet und Pässe sind abgestempelt. „Was hast du da für Geld rübergeschoben?“ will ich von dem Eckernförder wissen. „Oh, das war die Abfertigungsgebühr. Schau mal, hier ist die Quittung.“ Ob er auch jemanden bestochen habe? „Nein“, so Tarik, „das ist in Afghanistan nicht üblich und passt überhaupt nicht zu unserer Kultur.“

Einen letzten Stempel brauchen wir noch. Vom „Afghanischen Gesundheitsamt“. Da müssen die Frauen mit. Unsere Impfpässe werden gründlich untersucht. Wir nicht. Eine Frau in weißem Kittel sieht uns tief in die Augen, fühlt die Temperatur der Stirn und unseren Puls. Die Dame scheint zufrieden, kommt aber noch mit einer unbeschrifteten Pillenschachtel und greift drei große weiße Tabletten heraus. Jeder müsse jetzt eine davon nehmen, dann könne sie unsere Papiere stempeln und wir könnten weiterfahren.

„Ja, aber was ist das für eine Tablette, was bewirkt die?“ frage ich die Halbgöttin in weiß. „Oh, no problem! This is to clean your stomach.“ Ist ihre klare und vieldeutige Antwort. Monika hat ihre Tablette schon runter. Ich will nicht. Michelle guckt mich mit ihren großen dunkelbraunen Augen an. Ich frage noch mal nach dem Wirkstoff, bekomme die gleiche Antwort. Nee, tut mir leid. Mit mir ist das nicht zu machen. Ich nehme doch nicht irgend eine Pille, deren Wirkung ich gar nicht einschätzen kann!


 


Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien.
Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten.
Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]



Auf wechselnden, miteinander verwobenen Zeitebenen schildere ich in rund 60 Kapiteln meine Erlebnisse in dem Land am Hindukusch von 1973 und dem Sturz des Königs, über die Zeit unter dem Taliban-Regime bis in die Zeit der westlichen Militäreinsätze und der versuchten Demokratisierung.

Neben vielen anderen Erfahrungen wurde ich in dieser Zeit zweimal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, musste zeitweilig im Bunker der türkischen Botschaft leben und hatte ein erstaunliches Interview mit Mullah Muttawakil, dem persönlichen Sprecher von Taliban-Führer Mullah Omar und späteren Taliban-Außenminister.

Ich schildere meine eigenen Gefühle und Zweifel ebenso wie politische und menschliche Geschehnisse, Bewegungen in der Bevölkerung und Entwicklungen im Land.

Nichts an diesem Manuskript ist erfunden oder hinzugedichtet – einiges allerdings habe ich, um niemanden zu gefährden, weggelassen. Einige Namen habe ich sicherheitshalber verändert.

Ob das letzte Kapitel jemals fertig werden wird, ist fraglich. Eigentlich sollte ich in Kabul unterrichten, doch die Sicherheitslage ist dermaßen schlecht, dass meine Auftraggeber mich voraussichtlich nicht ins Land holen werden. „Deutscher Medientrainer von Taliban ermordet“ wäre für alle Beteiligten eine katastrophale Schlagzeile.

Dieter Herrmann

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