März 2001 – Im Knast der Taliban Ob Karin, die deutsche Ärztin im Krankenhaus, noch mitbekommen hat, dass wir vor der Tür verhaftet und gefesselt worden sind? Auf jeden Fall sind wir ja für den Abend verabredet – sie wird hoffentlich die richtigen Schlüsse ziehen, wenn wir nicht kommen. Neben uns auf der Ladefläche sitzen
März 2001 – Im Knast der Taliban
Ob Karin, die deutsche Ärztin im Krankenhaus, noch mitbekommen hat, dass wir vor der Tür verhaftet und gefesselt worden sind? Auf jeden Fall sind wir ja für den Abend verabredet – sie wird hoffentlich die richtigen Schlüsse ziehen, wenn wir nicht kommen. Neben uns auf der Ladefläche sitzen zwei Männer. Ihre Kalaschnikow AK-47 haben sie auf den Knien liegen. Einer der beiden sieht verschlafen aus. Immer wieder scheinen ihm die Augen zuzufallen. Der Fahrer hat keine Eile. Mit den wenigen anderen Autos auf der Straße mitschwimmend, fahren wir zuerst am Bazar vorbei und dann in Richtung Norden. Nach rund 20 Minuten hält der Toyota Hi-Lux vor einem geschlossenen Tor. Nach kurzem Hupen öffnet sich eine kleine Luke, ein Mann blickt nach draußen, die Luke schließt sich und die Flügel des Holztors schwingen auf. Ein Innenhof, darum herum niedrige Gebäude aus Ziegeln und Lehm.
Auf ein paar Gesten hin springen wir von der Ladefläche. Kay mit der Kamera in der Hand, ich versuche, den Rucksack mit Kassetten, Akkus und Mikrofonen mitzuzerren, Mustafa hat das Stativ schon in der Hand. Wie eine Furie springt einer der Männer dazwischen. Offensichtlich muss alles auf dem Fahrzeug bleiben. Etwas abseits, unter einem Wellblechdach, auf dem Fußboden, sitzen vier bärtige Typen. Einer davon in einer Polizeiuniform. Dorthin werden wir geführt. Hinsetzen! Bedeutet uns eine Geste. Der in Uniform fängt an zu sprechen, Mustafa soll uns das offensichtlich übersetzen: „Wir drei würden beschuldigt, gegen Gesetze verstoßen zu haben. Man würde uns alle drei anklagen und vor Gericht stellen.“ Unsere Kamera und die Kassette darin würde man untersuchen und dann weiter sehen. Ob wir etwas zu sagen hätten.
Oh ja, das haben wir. Wir würden gerne wissen, was man uns vorwerfen würde und außerdem würden wir gerne Kontakt mit der zuständigen Deutschen Botschaft in Islamabad aufnehmen. Die Männerrunde quittiert Mustafas Übersetzung mit einem Lächeln auf den Lippen. Man würde uns jetzt unsere Zelle zeigen und dann würden wir ja sehen, wie es weiter geht.
Eigentlich ist es ja eine nahezu schizophrene Situation. Da ist unser offizieller Aufpasser mit uns festgenommen worden und wandert auch mit uns in den Knast, ist aber gleichzeitig der offizielle Dolmetscher der Behörde hier. Wie Kay und ich, so bekommt auch er zwei Wolldecken in die Hand gedrückt und wir werden einen kurzen, offenen Gang entlang in einen Raum geführt, der ungefähr eine Grundfläche von 3 x 4 Metern hat. Die schwere Holztür fällt hinter uns ins Schloss. Der Fußboden besteht aus festgestampfter, hellbrauner Erde, die Wände scheinen gemauert und die Decke, in gut vier Metern Höhe ist aus Stroh. Von einem Holzbalken baumelt eine nackte Glühbirne herab. Ein Fenster gibt es nicht. Mustafa hat Tränen in den Augen, erzählt uns, dass er an seine Frau und die beiden Kinder denken würde.
Die Wolldecken stinken, als wären sie noch nie gereinigt worden. Als ich eine meiner beiden auf den Erdboden lege, sehe ich kleine, bewegliche, braune Punkte auf der Decke. Winzige Käfer. Vorsichtig versuche ich, den fadenscheinigen Lumpen auszuschütteln. An der Glühbirne zerplatzt mit leisem Zischen ein Insekt. Ratlos, traurig, nachdenklich und auch wütend sitzen wir drei auf den zusammengelegten Decken und grübeln. Keiner von uns weiß, was uns jetzt erwartet, keiner weiß, was die Gotteskrieger da draußen mit uns vorhaben. Irgendwann muss ich dann eingedöst sein. Wach werde ich erst wieder, als sich die Tür nach draußen öffnet. Es ist schon dunkel. Wie spät es ist, wissen wir nicht, keiner von uns hat heute seine Armbanduhr um. Wir hatten Angst, dass man uns an einem der Kontrollpunkte die Uhr klauen würde.
Zwei Männer führen uns nach draußen, zur Toilette. Einer nach dem anderen. Ich bin als letzter dran. In einem Holzverschlag ist ein Loch im Boden. Ein klassisches Plumpsklo – allerdings die orientalische Version. Zum Stehen über dem Loch. Neben der Hütte ein blechernes Waschbecken mit einem Wasserhahn. Zumindest kann ich mir die Hände waschen und mein Gesicht etwas frisch machen.
Zurück in der Zelle erwartet mich ein gelber 5-Liter-Motorölkanister. „Shell-Helix“, sagt die Aufschrift. Jetzt ist Wasser drin. „Trinkwasser, haben sie gesagt“, stöhnt Mustafa. Vorsichtig probiert er das Wasser. Es scheint in Ordnung zu sein, nach ein paar kräftigen Schlucken gibt er den Kunststoffkanister an mich weiter. Zuletzt ist Kay dran. Es sind fünf Liter, das dürfte sicher bis morgen reichen. Ob ich schlafen kann? Keine Ahnung, ich will es aber versuchen. Um uns herum gibt es jede Menge leise Geräusche. Jemand stöhnt, leises Schnarchen ist zu hören, Husten und ab und zu leise Schritte, draußen vor der Tür. Andere Laute kommen von rechts und links durch die Wand. Ob auch dort Menschen eingesperrt sind? Ob das hier überhaupt ein richtiges Gefängnis ist oder eine Polizeistation oder irgend etwas ganz anderes? Nach einer Weile höre ich den ruhigen und gleichmäßigen Atem von Mustafa. Wie schön für ihn, er schläft schon. Das ständig brennende Licht stört und auch die kleinen Ungeheuer, die hin und wieder von der Strohdecke herunter fallen. Solange sie mich nicht treffen…
Irgendwann wache ich auf, weil mein Magen schmerzhaft knurrt. Ich muss also geschlafen haben, bis der Hunger mich geweckt hat. Mustafa schläft noch immer – oder schon wieder? Kay ist wach und wüsste gerne, wie spät es ist. Ich auch. Bis auf ein paar gedämpfte Laute um unsere Zelle herum ist es ruhig. Es ist bedrückend, hier tatenlos sitzen zu müssen und zu grübeln. Was die wohl mit unserer Kamera und den anderen Teilen der Ausrüstung machen? Wenn die Experten draußen die Kamera kaputt machen, dann könnte das für Kay und seine Firma das Ende bedeuten. So, wie sie irgendwo da draußen steht, hat das Gerät rund Hunderttausend Mark gekostet. Natürlich ist die Kamera gegen Beschädigung und Diebstahl versichert. Leider aber ist Afghanistan von dieser Versicherung ausdrücklich ausgenommen. Die Bestimmungen sagen, dass Beschädigungen oder Verlust in Afghanistan nicht versicherbar sind.
Als die Tür zu unserem „Verlies“ geöffnet wird, ist es gleißend hell draußen. Es muss gegen Mittag sein. Alle drei müssen wir uns wieder im Innenhof unter dem Blechdach auf den Boden setzen. In der Mitte steht unsere Kamera. Ich habe unbeschreiblichen Hunger. Die kommen offensichtlich gleich zur Sache und Mustafa übersetzt. „Die wollen sehen, was wir auf der Videokassette haben. Wenn wir nur gegen das Gesetz verstoßen haben, werden wir mit einer leichten Strafe davonkommen. Wenn wir aber etwas Negatives über die Taliban und die Regierung auf der Kassette haben, sollen wir schwer bestraft werden.“ Ich bitte unseren Dolmetscher zu erklären, dass wir nichts Verbotenes getan haben und dass es in dem Film, den wir machen, weder um die Taliban noch um die Regierung von Afghanistan geht.
Die Männer, die uns hier verhören, wollen unbedingt wissen, was auf der Kassette ist. Kay soll sie abspielen, danach würden sie über eine offizielle Anklage entscheiden. Unser Kameramann ist so cool, wie ich ihn in all den Jahren noch nie erlebt habe. „Mit dieser Kamera kann man aufnehmen, also filmen, aber nicht abspielen. Zum Ansehen des gedrehten Materials braucht man den richtigen Video-Player,“ lässt er Mustafa übersetzen. Was nur Kay und ich wissen: noch auf der Fahrt vom Krankenhaus hierher hat er die Kamera, mit der man sehr wohl auch abspielen könnte, so eingestellt, dass das jetzt unmöglich ist. Einer der Taliban-Polizisten beginnt an Knöpfchen zu drehen und wahllos an Schaltern zu spielen. Es tut sich nichts – vermutlich ist der Akku, der in der Kamera ist, inzwischen auch leer. Für ein paar Minuten flüstern die Männer miteinander und lassen uns dann mitteilen, dass sie einen Weg finden würden, unsere Gesetzesverstöße nachzuweisen.
Kaum sind wir wieder in der Zelle und „unter uns“, berichtet Mustafa, worüber sie geflüstert haben. „Die haben jetzt ein echtes Problem“, sagt er, sie würden nämlich gerne einen Video-Player besorgen. Fernsehen, und damit auch Videos, sind nach dem Gesetz aber verboten. Wer also zugibt, ein Video-Gerät zu haben, macht sich strafbar.“ Wir sind gespannt, wie sie diesen Konflikt lösen und diskutieren darüber, bis nach ein paar Minuten die Tür wieder aufgeht. Einer der Männer, ohne Schusswaffe aber mit einem Knüppel am Gürtel, bringt eine Plastikschale mit Kartoffelscheiben und stellt sie mitten auf den Boden. Grob geschätzt sind das vier oder fünf mittelgroße Kartoffeln, in Scheiben geschnitten und gekocht. Dazu ein neuer Ölkanister mit Wasser und ein Fladen Brot. Der Mann sagt etwas und Mustafa übersetzt. Das wäre unser Essen für heute und so etwas würde es jetzt jeden Tag einmal geben. Stunden später werden wir wieder einzeln zum Klohäuschen geführt.
Wenn COVID-19 uns bis dahin nicht lahmgelegt hat, erscheint das nächste Kapitel meines Afghanistan-Tagebuches am 28. April 2020 unter dem Titel „März 2001 – Ob man so das Beten lernt?“. Ein weiteres Kapitel gibt es dann ca. alle 14 Tage. Insgesamt werden vorerst etwas mehr als 60 Kapitel veröffentlicht. Wann immer möglich, versuche ich selbst gemachte Fotos oder Standbilder aus unseren Videofilmen zu verwenden. Wenn Bilder von anderen Fotografen verwendet werden, sind diese immer namentlich gekennzeichnet. Dieser Blog kann weiter unten auf dieser Seite abonniert werden.
Dieter Herrmann, der Autor dieses Afghanistan-Tagebuchs, lebt in Australien, berichtet von dort für deutsche Fernsehsender und ist Chefredakteur der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Australien. Bekannt ist er als Medientrainer für Hörfunk- und Fernsehsender sowie für Führungskräfte im oberen Management, Offiziere und Piloten. Kontakt zum Autor und weitere Informationen zu den angebotenen Medientrainings über die Homepage dieses Blogs oder unter dieter(at)australia-news.de [bitte das (at) durch das @-Zeichen ersetzen!]